: „Die Kamera gerät in Vergessenheit“
Die Filmemacherin Andrea Rothenburg befasst sich mit Depression, Sucht und psychischen Krisen – und macht psychisch Kranke dabei zu Held*innen
Von Esther Geißlinger
„Ich war ein Schattenkind“, rappen Kinder und Jugendliche zu Beginn des Dokumentarfilms „Wir sind hier!“. 2018 ist er in Zusammenarbeit mit der Beratungsstelle Wellengang Hamburg entstanden. Timo, Kristina, Dominic und die anderen Held*innen des Films beschreiben vor der Kamera ihr Leben mit einem psychisch kranken Elternteil – wie der Alltag zerbröselt, weil Vater und Mutter ihn nicht mehr organisieren können; wie die Kinder immer mehr Aufgaben übernehmen und nach außen die Fassade erhalten. „Ich wollte meiner Mutter helfen, indem ich für sie denke“, sagt etwa der Protagonist Timo. „Aber das konnte ich nicht, ich war noch ein Kind.“
Hinter der Kamera stand die Filmemacherin Andrea Rothenburg. Sie dreht Filme über Depression, Sucht, psychische Krisen. Besonders setzt sie sich für Kinder psychisch kranker Eltern ein – eine Gruppe, die vom psychiatrischen Hilfesystem kaum betreut wird. Für ihre Arbeit und ihr ehrenamtliches Engagement wurde die 47-Jährige von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde mit einem Anti-Stigma-Preis ausgezeichnet.
Rothenburg ist selbst Mutter zweier Töchter. Ihr fällt besonders auf, dass die Kinder in ihrem Film so ganz anders sind als ihre. „Es ist so wenig Leichtigkeit in ihnen, ich finde das traurig“, sagt sie. Bei ihrer Arbeit sei, gerade bei diesem Thema, „auch Aktivismus dahinter. Ich bin eine große Kritikerin des Systems, ich sehe so viele Dinge, die falsch laufen oder sich zu langsam ändern. Bevor ich platze, muss ich was tun.“
Den Kontakt mit psychisch Kranken ist Rothenburg seit Kindheit gewohnt: „Die Faschingsfeiern in Bonnies Ranch waren immer die besten.“ Bonnies Ranch ist die Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik in Berlin, dort arbeitete ihr Vater, der Psychiater Ernstjürgen Rothenburg, bevor er als Chefarzt an die Fachklinik Rickling nahe Bad Segeberg in Schleswig-Holstein wechselte. Als Tochter des „Irrenarztes“ wurde Rothenburg in der Schule misstrauisch beäugt, als könnten die „Bekloppten“ abfärben. Der Ton, mit dem über psychische Krankheiten und davon Betroffene gesprochen wurde, stieß sie schon als Kind ab.
Ihr Berufsleben in der Klinik zu verbringen, konnte sie sich nicht vorstellen, nachdem sie als Jugendliche ein Praktikum in Rickling absolviert hatte. Dabei traf sie eine Mutter mit Schizophrenie. Nach dem Wohlergehen ihrer Kinder hatte sich nie jemand erkundigt. „Ich war total erschüttert“, erinnert sich Rothenburg. „Wie kann das angehen, dass eine große Klinik wie Rickling nicht einmal einen Spielplatz oder Spielecken hat, geschweige denn dass jemand diese Kinder fragt, wie es ihnen geht?“
Nicht nur in Rickling fallen Kinder durch das Raster, wenn ihre Eltern eine psychische Krankheit haben. In der Therapie geht es nur um die Patient*in, Verwandte spielen bestenfalls als Unterstützer*innen der Kranken eine Rolle. Dass sie selbst Hilfe brauchen könnten, ist im System nicht vorgesehen.
Dabei ist aus Studien bekannt, dass Mädchen und Jungen, die mit einem kranken Elternteil aufwachsen, ein deutlich höheres Risiko tragen, einmal in ihrem Leben selbst in eine psychische Krise zu geraten. Rothenburg, die sich auch als Vorsitzende des Vereins „Psychiatrie in Bewegung“ für eine bessere Versorgung dieser Kinder einsetzt, verweist auf die große Bedeutung von Prävention: „Wir könnten viele dieser Krisen verhindern und damit nicht nur Leid, auch dem Gesundheitssystem Geld sparen, wenn man rechtzeitig in Prävention investieren würde.“ Schon in der Kita und der Grundschule sollte über Gefühle, Ängste, Sorgen geredet werden, wünscht sich Rothenburg. „So könnten wir betroffenen Eltern helfen, eigene Probleme auszusprechen.“
Ihre Filme sieht die Filmemacherin, die inzwischen mit ihrer Familie in einem kleinen Ort nahe von Bad Segeberg lebt, als „Werkzeuge, um mittelfristig an größeren Schrauben drehen zu können“.
Ursprünglich zog es Rothenburg auf die Bühne. Nach einem Jahr als Au-pair in Südafrika fing sie 1994 als Regieassistentin am Hamburger Ernst-Deutsch-Theater an, studierte 1999 an einer Film-Akademie in Berlin. Es folgte eine Drehbuchausbildung. Aber sie merkte schnell, dass Spielfilme nicht das Richtige für sie waren. „Mich interessiert das wahre Leben“, sagt sie. Auch die Abhängigkeit von anderen Personen und Fördergeldern habe sie von großen Filmprojekten abgehalten: „Wenn ich ein Buch schreibe, habe ich keinen Einfluss mehr darauf, was daraus wird, wer die Rollen spielt“, sagt sie. „Ich möchte die Sachen gern in der Hand behalten.“ Ihr sei auch wichtig, mit Expert*innen in eigener Sache statt mit Schauspieler*innen zu arbeiten. „Die Kamera gerät irgendwann in Vergessenheit, es entsteht eine unglaubliche Nähe.“
Ihre ersten Filme hatte Andrea Rothenburg vorfinanziert, und bis heute „rechne ich nie aus, was ein Film kostet und was er einbringen muss“. Inzwischen hat sie gemeinsam mit ihrem Partner Uwe Osswald Krienke, der sich um die technische Seite und Organisation kümmert, mehr als ein halbes Dutzend Filme gedreht. In „Neben der Spur“ geht es um Depression, „Endlich trocken!“ befasst sich mit Sucht, „Plan B“ schildert Wege aus der Krise.
Inzwischen aber können Rothenburg, Krienke und die beiden gemeinsamen Töchter von der Filmarbeit leben. Die Werke laufen in Kinos, bei Fachveranstaltungen und in Schulen. Rothenburg tritt als Referentin auf, gibt Workshops. Parallel ist sie seit kurzer Zeit in der Fachklinik Rickling angestellt – sie kümmert sich dort um die Betreuung der Kinder der Patient*innen.
Für einen journalistischen Radiobeitrag ging Rothenburg das erste Mal mit Mikrofon in eine psychiatrische Abteilung, ein „Aha-Erlebnis“: „Mein Gesprächspartner fand es toll, dass ihm jemand zugehört hat.“
Ihre Protagonist*innen findet Rothenburg inzwischen meist durch langjährige Kontakte: „Man kennt sich, findet sich, vertraut sich.“ Wichtig sei ihr, dass es den Held*innen ihrer Filme gut geht, dass der Auftritt vor der Kamera im besten Fall sogar einen therapeutischen Effekt haben kann.
Wenn Sie selbst traurige Gedanken haben oder sogar an Suizid denken, gibt es eine Vielzahl von Hilfsangeboten. Die Telefonseelsorge bietet rund um die Uhr und kostenfrei Beratung: ☎0800-111 0 111 oder ☎0800-111 0 222 oder ☎11 61 23.
Auf www.telefonseelsorge.de können Sie auch mit einem oder einer Seelsorger*in chatten
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