Drei tote Kinder und eine bittere Erkenntnis

Im Kinderkurheim „Waldhaus“ bei Bad Salzdetfurth sind 1969 in kurzem Abstand drei Kinder ums Leben gekommen. Ein Aufarbeitung der Geschehnisse gibt es aber erst jetzt

Was hier passiert ist, hat ein Historiker versucht heraus zu finden: Eine historische Postkarte der Kinderheilanstalt „Waldhaus“ Foto: Hauke-Christian Dittrich/dpa

Von Nadine Conti

Es war ein Bericht der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (HAZ)im vergangenen Jahr, der den Stein ins Rollen brachte. Kurz vor dem ersten großen, von Betroffenen organisierten, Kongress der „Verschickungskinder“ auf Sylt im November 2019, interviewte der HAZ-Redakteur Bert Strebe eine Betroffene aus Hannover, die dort teilnehmen wollte.

Sabine Schwemm war als Vierjährige auf Kur geschickt worden – wie es damals in vielen Familien üblich war. In den 50er- und 60er-Jahren hatte man kein Geld und keine Zeit für Familienurlaube. Die Kinder wurden allein ans Meer oder in den Harz geschickt, wo sie im guten Klima mit schwerer Kost „aufgepäppelt“ wurden.

Der Erfolg einer solchen Kur wurde vor allem an der Gewichtszunahme gemessen. Die Erziehungs- oder vielmehr Disziplinierungsmethoden waren autoritär und rabiat, eine Rücksichtnahme auf kindliche Bedürfnisse nicht üblich.

Sabine Schwemm kam ins Waldhaus bei Bad Salzdetfurth, eines von drei Kinderkurheimen mit Solebädern, die von der „Stiftung Kinderheilanstalt“ betrieben wurden, die ab dem Zweiten Weltkrieg zur evangelischen Inneren Mission Niedersachsen gehörte. Zurück kam sie verstört und verängstigt – bis heute kämpft sie mit Panik­attacken, deren Ursprung ihr erst spät klar wurde.

Beim Stochern in alten Archiv­unterlagen wurde Schwemm allerdings klar, dass sie möglicherweise sogar noch Glück gehabt hat. Denn im Jahr nach ihrem Aufenthalt im Waldhaus kamen dort in kurzer Zeit drei Kinder ums Leben.

Aufgeschreckt durch den Zeitungsbericht in der HAZ setzte die Diakonie, Rechtsnachfolgerin der Inneren Mission, einen Historiker darauf an, die Archivmaterialien rund um diese Todesfälle systematisch aufzuarbeiten. Jetzt präsentierte er seinen Bericht.

Als „beschämend“ und „bedrückend“ bezeichnet Diakonie-Vorstandssprecher Hans-Joachim Lenke die Ergebnisse am Montag. Dabei war der kirchliche Träger wohl nicht die einzige Instanz, die hier nicht genügend kontrolliert hat. Der Archivbestand ist lückenhaft. Der Historiker Stefan Kleinschmidt stützt sich vor allem auf die Aktenbestände der Heimaufsicht und des Landeskirchenamtes.

Aus denen wird deutlich, dass die drei Einrichtungen in den Sommermonaten chronisch überbelegt waren und gleichzeitig nie genug Fachpersonal vorhanden war – selbst gemessen an den damaligen, nicht besonders hohen, Standards.

Immer wieder mahnten Landesjugendamt und Kreisjugendamt an, die Stiftung müsse sich mehr bemühen, Kindergärtnerinnen oder Jugendleiterinnen einzustellen und nach Tarif zu bezahlen – stattdessen tummelten sich dort Praktikantinnen, ungelernte Kräfte, etliche selbst noch minderjährig. Immer wieder drohten die Aufsichtsbehörden, man müsse sonst die Belegplätze reduzieren und taten es dann doch nicht.

Auch bei den wenigen Beschwerden, die in den Akten erhalten sind, zeigten die Ämter eine seltsame Nähe zum Träger. Man leitete sie weiter – unter voller Namensnennung wie einige Beschwerdeführer pikiert bemerkten –, forderte eine Stellungnahme an und gab sich damit zufrieden.

Die Einrichtungen waren in den Sommermonaten chronisch überbelegt und hatten nie genug Fachpersonal

Es war wohl eine Mischung aus Fahrlässigkeit und Überforderung, die dann zum Tod der drei Kinder führte. Am 18. März 1969 erstickte der siebenjährige Stefan an seinem eigenen Erbrochenem. Offenbar war er kurz zuvor in Ohnmacht gefallen, warum ließ sich bei der Obduktion nicht feststellen.

Nur zwölf Tage später starb die sechsjährige Kirsten an einem fiebrigen Infekt, vermutlich in Kombination mit einer Herzschwäche. Auch in ihren Bronchien wurde etwas gefunden, was eingeatmete Speisereste gewesen sein könnten. Beide Todesfälle wurden als Unglücksfälle zu den Akten gelegt, obwohl sie von der Leitung viel zu spät gemeldet worden waren.

Am 18. Mai 1969 kam es zum grausamsten Todesfall: Der noch nicht einmal vier Jahre alte André aus Berlin wurde von drei sechsjährigen Jungs tot geprügelt. Sie malträtierten das schreiende Kind mit einem abgebrochenen Stuhlbein, bissen und schubsten ihn schließlich so oft vom Bett und ließen ihn auf den Hinterkopf knallen, dass er an Hirnblutungen starb.

Gefunden wurde er erst am nächsten Morgen: In dem Haus, in dem die Jungen untergebracht waren, gab es keine Nachtwache. Die Ermittlungen wurden aufgrund der Strafunmündigkeit der Täter eingestellt, auch eine Aufsichtspflichtverletzung lag nach Ansicht der Staatsanwaltschaft nicht vor.

Ende 1969 wurden die drei Häuser trotzdem geschlossen – nicht aufgrund der Todesfälle, sondern weil sich der Betrieb nicht mehr lohnte. Kinderkuren waren aus der Mode gekommen, Familien fuhren zunehmend mit ihren Kindern gemeinsam in den Urlaub. Eine gründliche wissenschaftliche Aufarbeitung dieser Phase, die auch andere Träger und Einrichtungen umfasst, steht weiter aus, sei aber dringend nötig, sagt Diakonievorstand Hans-Joachim Lenke.