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: Ich schätze, die Kanzlerin hat gerade andere Sorgen

Das Virus des Jahres überrollt uns gerade als „zweite Welle“. Man soll Kontakte minimieren und möglichst zu Hause bleiben. Letzteres ist eine ganz gemütliche Vorstellung. Filme gucken, lesen, Schokolade essen, so was eben. Bevor der Klimawandel so real wurde wie in den letzten Jahren, wäre der November die perfekte Jahreszeit dafür gewesen: nass, neblig, kalt, früh dunkel.

Seit ein paar Jahren verschiebt sich das aber und wir hatten vergangene Woche immer noch sonnige 15 Grad plus, also „für die Jahreszeit zu warm“. Draußen ist es damit auf jeden Fall angenehmer als im Haus. Fürs Büro ziehe ich Thermowäsche drunter, denn lüften kann man nur durch die Balkontür. Das Kind sieht morgens aus, als würde es zu einer Expedition aufbrechen. In der Schule wird dauergelüftet und dementsprechend warm ist es angezogen.

Wenigstens am Wochenende könnte man dann aber mal richtig durchwärmen: kuschlig auf der Couch sitzen, warm baden, im Schlafanzug auf dem Bett fläzen. So könnte es sein. Aber so ist es nicht. Denn seit fünf Tagen ist unsere Heizung kaputt. Und damit haben wir nicht nur kalte Räume, sondern auch ausschließlich kaltes Wasser.

Wir sind kaputte Heizungen gewöhnt. Der Gasbrenner im Keller unseres Mehrfamilienhauses ist sensibel und fällt mindestens einmal im Jahr aus. Nachdem er vor ein paar Jahren gegen einen neuen ausgetauscht worden war, wurde es erst mal schlimmer und er gab mehrmals pro Winter den Geist auf. Seit zwei, drei Jahren macht er im Prinzip, was er soll. Also er machte, was er sollte.

Ich sitze hier, während ich diesen Text schreibe, in eine Wolldecke gewickelt mit einem Schal um den Hals. „Da fehlt ein Ersatzteil, das gibt es aktuell in Berlin gerade nicht“, erklärte mir nach zwei kalten Tagen die Frau von der Hausverwaltung.

Früher wäre ich ins Schwimmbad gegangen. Oder in die Sauna. Abends hätte man Freunde besucht, wäre ins Restaurant gegangen oder ins Kino. Man hätte spontan an die Ostsee fahren können. Aber all das ist ja jetzt nicht drin.

Wäre ich Coronaleugnerin, würde ich ein Plakat an den Balkon hängen: „Hier will man Mieter zum Auszug zwingen. Danke, Merkel!“ Oder irgend so etwas Verquastes. Aber ich schätze, die Kanzlerin hat gerade andere Sorgen und wenig Interesse an unserer kaputten Heizung.

Statt nun also abends im Wohnzimmer zu sitzen und wahlweise Musik zu hören, Filme zu sehen oder zu lesen, gehen wir früh ins Bett und spielen „Errate die Melodie!“ Not macht erfinderisch, hätte meine Oma gesagt. Falls Sie auch gerade nicht wissen, was Sie abends zu Hause machen können – das Spiel geht so: Auf Youtube eine unbekannte Playlist suchen, das Handy dabei so wegdrehen, dass der andere es nicht sieht. Ein Lied anspielen und nach wenigen Takten wieder ausmachen. Tja, welches Lied war es?

Unsere aktuelle Playlist der Woche sind die „Größten Schlager der 60er und 70er Jahre“. Es hebt die Stimmung, wenn Wencke Myrrhe vom „Knallroten Gummiboot“ singt, Gitte sich einen „Cowboy als Mann wünscht“ oder Peter Rubin mit tiefer Stimme schmachtet: „Wir zwei fahren irgendwohin“. Mit gutem Willen könnte man das als positiven Ausblick in die Zukunft deuten. Gaby Coldewey