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: Die Welt wird auch nicht besser

Ich glaub, es geht schon wieder los. Nach ein, zwei Tagen innerer Panik setzt kurz vor Toresschluss wieder eine merkwürdige Beruhigung ein. Draußen ist Herbst. Ein goldener Blick auf gefallenes Laub unter einem azurblauen Himmel. Freiwillige Infektionsgruppen arbeiten sich durch die Sonnenallee, ein Geruch nach Unzufriedenheit dringt aus den Geschäften und Cafés, die auf „to go“ umgestellt haben, die Eingänge mit Theken zur Abholung versperrt. „Es gab nie einen Lockdown“, fällt mir ein Post des Kollegen Ph. R. ein. „Es gab nur eine Mittelklasse, die sich versteckt, und eine Unterklasse, die ihnen Dinge liefert.“

Ich habe dann auch mal das Personal minimiert. Obwohl es eh nicht mehr so hoch war seit den letzten sonnigen Tagen, an denen noch Fußball gespielt werden durfte. „Kontakte reduzieren“, heißt die Parole, und natürlich fragt man sich beim Anblick der vollen Busse, die an einem vorüberziehen, ob es nicht schlauer gewesen wäre, statt dem Amateursport und dem hygienemäßig außerordentlich gut aufgestellten Kulturbetrieb lieber den ÖPNV lahmzulegen. Oder einen Generalstreik aufzurufen. Oder, oder, oder.

„Die Pandemie ist groß, aber ein Symptom. Wesentlich sind allemal die Produktionsverhältnisse“, heißt es in einem Artikel über den toten Dichter Peter Hacks. Dementsprechend gilt: Dem Naserümpfen der Mittelschicht über den Hotspot Neukölln, die illegalen Partys und Hochzeiten haftet bei aller Berechtigung immer auch etwas Klassismus an; das von oben herab betonte Soziale ist so lange eine Schimäre, wie zum Beispiel das Gesetz über das Leiharbeit-Verbot in Schlachtbetrieben „verzögert“ wird; über Lohngerechtigkeit wird höchstens mal nachgedacht, Konkretes passiert nicht; auch über Wohnungssituationen und sozia­len Dichtestress wird nicht ernsthaft diskutiert.

Auch über die Selbstlügen der Kreativen in Zeiten des Neoliberalismus könnte man nachdenken; Soziologen wie Andreas Reckwitz haben bereits ­Erhellendes darüber geschrieben. Stichwort Selbstverwirklichung als Wirtschaftsmotor. In dasselbe Instrument wie Blechbläser Peter Altmaier, der von den Trompeten in den Kleiderschränken fabulierte, um Off-Kunst von kommerzieller Kunst zu unterscheiden, möchte man natürlich nicht unbedingt stoßen. Andererseits: Nicht alle Kunst ist gut und unverzichtbar. Und Stille tut auch mal ganz gut. Wie man ja schon bei John Cage …

Am Sonntag vor dem Teil-Lockdown sitze ich beim Inder, ein letztes, feierliches Mahl, draußen unter der Höhensonne im Plastikvorzelt und mit den Beinen unter einer warmen Decke, beim selben Inder wie damals im März, als ich die allgemeine Weltuntergangsstimmung als viel bedrückender empfand. Aber diesmal poste ich keinen Empörungstext voller Panik und Unverständnis. Angst habe ich natürlich trotzdem, anstecken will ich mich nicht und auch sonst niemanden. Logisch. Und natürlich vermisse ich den Sport, das Fußballspielen auf dem Halbfeld, die Schwimm-Slots in den Hallenbädern. Sport ist gut, gut für den Körper, gut für die Seele, und so eine fixierte Tretmaschine, ein sogenannter Heimtrainer, ersetzt eben gar nichts, nicht das Soziale des Mannschaftssports, auch nicht die glücklich machende Erschöpfung, nachdem man das selbstgesetzte Soll geschwommen ist.

Und auch die Restaurants und Cafés werde ich vermissen. Das Wetter wird schließlich nicht ­besser werden. Die Welt, fürchte ich, auch nicht. Dieser Inder hier wird den Lockdown über ­schließen. „Lohnt nicht“, sagt der Kellner.

René Hamann