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Wenn die Zukunft kommt

Mit umweltfreundlichen Häusern wollte die Bahnstadt in Heidelberg neue Maßstäbe setzen. Doch das ökologische Vorzeigeprojekt droht am Klimawandel zu scheitern – mit dem die Stadtverwaltung nicht gerechnet hat. Zu Besuch in einem grünen Stadtteil ohne Grün.

Das Grün der Zukunft. Foto: Jens Volle

Von Minh Schredle↓

Der Heidelberger Herbst ist ohnehin berühmt. Doch bislang denken dabei nur die wenigsten an eine Jahreszeit, eher an das große Straßenfest mit diesem Namen. Aber auch wenn die traditionellen Feierlichkeiten 2020 das erste Mal ausfallen mussten, bietet der Herbst in Heidelberg eine Besonderheit, die die Hauptstadt der Romantik anderen Regionen in der Bundesrepublik voraus hat: Wo sich das Laub gerade rot färbt und Bäume im Begriff sind, ihre Blätter abzuwerfen, gedeihen neuerdings auch immergrüne Korkeichen.

Bis vor Kurzem fühlten die sich eher in Portugal oder Algerien heimisch, hatten im kalten deutschen Winter schlechte Überlebenschancen, wie Geografie-Professor Klaus-Dieter Hupke vor Ort erläutert. Nun aber entwickeln sie sich prächtig in der Bahnstadt, dem jüngsten Heidelberger Stadtteil, der stets als ökologisches Vorzeige­projekt konzipiert war. „Der Klimawandel gilt ja oft als abstraktes, schwer greifbares Phänomen“, sagt Hupke. „Hier werden die Folgen sichtbar.“

Noch handelt es sich bei der Korkeiche um eine Heidelberger Spezialität, betont der Geograf im Gespräch mit Kontext. „In anderen deutschen Städten, in Stuttgart zum Beispiel, würde so ein Baum höchstwahrscheinlich eingehen“, ist sich Hupke sicher, zu kalt werde es dort in den kühleren Monaten. Doch Heidelberg gehöre ohnehin zu den wärmeren Städten der Republik. Und in der Bahnstadt – das weiß er aus eigener Erfahrung, weil er hier sein Büro hat – wird es gerne mal besonders heiß.

Preisgekrönt vor dem Spatenstich

Die Geschichte der um Nachhaltigkeit bemühten Siedlung beginnt, wo andere Bemühungen um Nachhaltigkeit aufgegeben wurden: Der alte Heidelberger Rangier- und Güterbahnhof stellte 1997 den Betrieb ein. Auf den freiwerdenden Gleisflächen sollte ein neuer Stadtteil entstehen, der insbesondere die Not auf dem schon damals angeheizten Wohnungsmarkt lindern sollte. Zugleich wollte die Stadt auch auf Ökologie und Nachhaltigkeit achten.

Was aus dem Vorhaben wurde, verkauft das Heidelberger Stadtmarketing als Erfolgsgeschichte. „Als die Bagger anrollten, konnte sich kaum jemand vorstellen, wie rasant die Industriebrache in den kommenden Jahren Gestalt annehmen wird“, heißt es in einem Werbefilmchen für das Viertel, das nach ursprünglichen Plänen schon 2006 von den ersten Bewohnern bezogen werden sollte und es 2012 auch wurde.

Die Verheißungen einer großen Zukunft konnten auch Kritiker begeistern. So gewann das Bahnstadt-Teilareal „Heidelberg Village“ bereits im September 2015 einen Preis der Initiative „Deutschland – Land des Langen Lebens“. Einen Monat später begannen die Bauarbeiten. Als die ersten Bewohner zum 20. April 2017 einziehen wollten, mussten sie bitter enttäuscht werden: Einen Tag vor dem geplanten Umzug informierte man die Betroffenen per Mail, dass die neuen Wohnungen noch nicht bezogen werden konnten, weil sie noch nicht fertig waren.

Doch wie bei allen Großprojekten in der Bundesrepublik gab es anfangs die ein oder andere Schwierigkeit. Aber wer beschwert sich noch nach der Schlüsselübergabe?

In charakteristisch austauschbarer Investorenarchitektur, wie sie in all den Zukunftsstädten zu bestaunen ist, entstand ein Quartier, das Maßstäbe setzen will. Und teils ist das durchaus gelungen: Wenn die Bahnstadt vollends fertig ist, soll sie die größte Passivhaussiedlung der Welt werden. Bis zu 6.000 Einwohner und 7.000 Arbeitsplätze kommen in Gebäuden unter, die den Heizbedarf dank ihrer Bauweise und einer herausragenden Wärmedämmung auf ein Minimum reduzieren.

Anwohner Harald Dürr ist „zu 95 Prozent zufrieden“ mit seinem Leben im neuen Stadtteil, berichtet er Kontext. Dürr gehört zu den ersten Bewohnern in der Bahnstadt, seit acht Jahren lebt er hier. Früher hat der 76-jährige Rentner in der Altstadt gewohnt, mit Blick auf den Heiligenberg, und wenn er sich aus dem Fenster gelehnt hat, konnte er sogar das Schloss sehen. „Die Aussicht war schöner, ja“, sagt Dürr, „aber der ganze Tourismus hat genervt. Und laut ist es geworden, wenn die Kneipen voll waren.“

An der Bahnstadt schätzt er die Ruhe. Vor allem aber begeistert ihn das Passivhaus-Konzept: „Seit ich hier wohne, musste ich vielleicht ein oder zwei Mal die Heizung anwerfen. Auch jetzt ist sie aus und ich habe hier angenehme 23 Grad.“ Nur im Sommer, da könne es arg warm werden. „Aber meine Wohnung ist gut gelegen, hier kann man gut durchlüften. Von anderen Bewohnern habe ich schon gehört, dass sie manchmal unter den Temperaturen hier leiden.“

Das Darmstädter Passivhaus-Institut hat sich 2017 nach dem Befinden in der Bahnstadt erkundigt und in einer Umfrage herausgefunden, dass Dreiviertel der Bewohner grundsätzlich zufrieden sind. Gleichzeitig gaben 60 Prozent an, dass es ihnen im Sommer zu heiß wird. Die angehende Juristin Martha Ninov, die hier seit vier Jahren in einem Studentenheim lebt, kennt das Problem. „In manchen Nächten konnte ich nicht schlafen wegen der Hitze“, erzählt sie. Eigentlich wohne sie gerne hier, „aber das ist schon hart“.

Überraschung: Die Erde erhitzt sich

In diesem Sommer schaute der „Deutschlandfunk“ für eine Reportage im Stadtteil vorbei und titelte nach einer Hitzewelle: „Das gescheiterte Modell Heidelberg-Bahnstadt“. Die tückenreichen Passivhäuser speichern Wärme sehr gut – vielleicht etwas zu gut. Bei abendlichen Innentemperaturen von 36 Grad mussten Anwohner teils Klimaanlagen nachrüsten, um es weiterhin in ihren Behausungen auszuhalten. Im „Deutschlandfunk“ kommen Stadtplaner zu Wort, die entschuldigend darauf verweisen, dass der Klimawandel „bei der Planung und dem Bau der Bahnstadt vor 20 Jahren eben noch nicht so greifbar wie heute“ gewesen sei.

Solche Aussagen bringen Cornelia Wie­tha­ler auf die Palme. Die Politologin, aktiv beim AK Umweltpolitik des Heidelberger Naturschutzbundes (Nabu), widerspricht vehement, dass der Klimawandel überraschend komme. Und sie sagt, es sei kein Zufall, dass ausgerechnet die Bahnstadt Probleme mit unerträglicher Hitze habe. „Schauen Sie sich nur an, wie dicht hier alles versiegelt worden ist. Es gibt kaum Grünflächen oder Parks. Die Häuser sind fast alle bis zum Straßenrand gebaut.“ Für Wiethaler ist das die Folge einer profitgetriebenen Stadtentwicklung, die mehr verdient, wenn sie mehr Grund bebauen kann. „Aber das ist Gift für das Stadtklima. Wenn der Boden planiert ist, staut sich die Hitze.“

Um ein genaueres Bild von dem Problem zu bekommen, hat sie Temperaturmessungen durchgeführt. In der Bahnstadt und zum Vergleich auf der noch unbebauten Ochsenkopfwiese etwa einen Kilometer weiter. „Die Ochsenkopfwiese ist ein Kaltluftentstehungsgebiet, das ist enorm wichtig“, sagt Wiethaler. „Die Temperaturunterschiede zwischen der Grünfläche und der Bahnstadt liegen trotz räumlicher Nähe bei bis zu fünf Grad.“ Für die Politologin ist damit klar: „Innenentwicklung darf ein gewisses Maß an Versiegelung nicht überschreiten.“

Karikaturen: Oliver Stenzel

Doch in der Bahnstadt sind unbebaute Flächen eine Rarität. Wo noch Grün verhanden ist, stehen meist schon die Bauzäune bereit. Es gibt zwar eine Straße, die sich „Grüne Meile“ nennt. Doch an ihr ist nichts weiter grün als ein bisschen Unkraut, das zwischen den Straßenbahngleisen wuchert. Wenige Schritte entfernt zieren ein paar traurige Alibibäume den Platz in direkter Nachbarschaft zur Da-Vinci-Straße, den die Stadt ihrem welthistorisch nicht minder bedeutsamen Hans-Georg Gadamer gewidmet hat. Er sei das „Herz der Bahnstadt“, meint das Stadtmarketing, aber er sieht aus wie ein Platz, der möglichst geringe Folgekosten verursachen soll.

Drei Straßen weiter wohnt Wolfgang Seelig. Der Rentner ist schon drei Mal in der Bahnstadt umgezogen. In den Stadtteil gelockt haben ihn ökologische Aspekte, geblieben ist er wegen der guten Nachbarschaft.

Aus der Bahnstadt will er nicht mehr weg. Aber er ist, auch angesichts der dichten Bebauung, skeptisch geworden, wie ernst es der Stadt mit der Nachhaltigkeit wirklich gewesen ist. Bereits als Student ist er bei Greenpeace gelandet, hat mitbekommen, wie lange sich eine Umweltbewegung schon dafür einsetzt, dass der Planet bewohnbar bleibt – und wie schwer sie es damit hat. „Jetzt mit Corona sehen wir ja, dass Staaten plötzlich wie aus dem Nichts riesige Hilfspakete auffahren können. Warum soll das nicht auch für den Umweltschutz gehen?“, ärgert er sich. Politik braucht eben Druck, meint Seelig, zuletzt habe das sogar der Altmaier eingeräumt.

Die Zukunft wird krass

Druck macht auch die Zukunft – denn entgegen aller Marketingversuche, den Begriff mit goldenen Erwartungen aufzuladen, deuten globale Entwicklungen auf das immer heftigere Eskalieren einer fundamentalen Krise hin, die buchstäblich die menschlichen Lebensgrundlagen bedroht. Im konservativ-republikanisch geprägten Alaska, lange Jahre Hochburg der Klimawandelleugnung, wird immer häufiger ein neuartiges Krankheitsbild diagnostiziert, das den Symptomen nach einer posttraumatischen Belastungsstörung ähnelt: Menschen leben in einem permamenten Schockzustand, seitdem Flüsse im Sommer so weit aufheizen, dass sich die Wasseroberflächen mit den Kadavern toter Lachse füllen.

Vergleichbar dramatisch sehen die Auswirkungen der Erderhitzung im deutschen Südwesten noch nicht aus. Verleugnen lassen sich die frühen Symptome aber nur noch unter großer Anstrengung. Tiger­mücken und Gottesanbeterinnen fühlen sich seit ein paar Jahren auch in Baden-Württemberg wohl. Ein Spaziergang durch den Schönbuch verdirbt dem grünen Ministerpräsident die Laune, weil die Bäume auch schon bessere Tage gesehen haben. Und in der Heidelberger Bahnstadt gedeiht, wo Gewächse noch Raum haben, die Korkeiche. Wie da wohl die Zukunft in zehn Jahren aussieht?

Für das örtliche Amt für Umweltschutz ist die voranschreitende Erderwärmung anscheinend nicht mehr aufzuhalten. „Im Zuge des Klimawandels ist in Heidelberg in den kommenden Jahren mit einer ‚Mediterranisierung‘ des Klimas zu rechnen“, heißt es auf der städtischen Website. So bleibt den Romantikern in und um Heidelberg nur der Ratschlag, sich am Herbst zu erfreuen, so lang es ihn noch gibt.

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