Auf Wiedersehen, Belarus, aber wir kommen zurück!

Massive Repressionen gegen Oppositionelle treiben viele Belarussen ins Ausland – auch die Autorin dieses Textes. Im Wortschatz der Belarussen gibt es dafür einen neuen Begriff: „Umsiedler“. Das klingt besser als Flüchtling

Noch sind sie standhaft: ein Aktivist der Opposition bei einer Demonstration in Minsk Foto: Stringer/dpa/TASS/picture alliance

Von Alexandrina Glagoljewa

Auf dem Weg sah ich mir alles auf Google Maps an. Es stellte sich heraus, dass die Fahrt von unserem Zuhause bis zu dem bezeichneten Punkt nur vier Stunden dauern sollte. Wenn man die Wartezeit an der Grenze und alles das, was unterwegs passieren kann, nicht mitrechnet. Nur vier Stunden? Meine Gedanken beruhigten sich. Ich, mein Mann und unsere beiden Kinder gehörten plötzlich zu denjenigen, die Belarus verlassen mussten …

Man kann ohne Übertreibung sagen, dass der 9. August das Leben der Mehrheit der Belaruss*innen grundlegend verändert hat. Im Land fanden Präsidentenwahlen statt, von denen die Menschen zum ersten Mal seit 26 Jahren wirkliche Veränderungen erwarteten. Einen Machtwechsel, neue Gesichter in der Politik, einen anderen Kurs. Doch was dann passierte, hätten nicht einmal unverbesserliche Skeptiker vorausgesagt.

Ich erinnere mich noch gut an die Woche vor dem eigentlichen Wahltag. Als Journalistin war es für mich immer interessant, mittendrin im Geschehen zu sein.

Jahrelang war ich bei allen belarussischen Wahlen Beobachterin gewesen und hatte die Vorgänge vom Standpunkt einer unmittelbar Beteiligten aus beschrieben. Dieses Mal jedoch war das anders. Die Coronapandemie in Belarus war nicht nur eine willkommene Gelegenheit, um besondere Sicherheitsvorkehrungen einzuführen, sondern für Präsident Alexander Lukaschenko auch ein wirksamer Hebel, um seine wackelige Position zu sichern.

Die zentrale Wahlkommission führte eine Reihe von Regeln ein, die formal der Pandemie geschuldet waren. So durften während der vorfristigen Stimmabgabe nicht mehr als drei Beobachter anwesend sein, am Wahltag selbst waren es fünf. Ich war als Beobachterin für das Wahllokal in der Nähe meiner Wohnung bereits beizeiten akkreditiert worden, doch plötzlich stand ich als Neunte auf der Liste. Also: keine Chance, am Wahltag als Beobachterin ins Wahllokal zu kommen.

Auf meine Ankunft hatte man sich vorbereitet: Die Liste mit den Wahlbeobachtern, wo ich eigentlich hätte unterschreiben sollen, war bereits vor meinem Besuch angefertigt worden, die Unterschriften wiesen alle eine Handschrift auf. Auch die Daten für die Akkreditierung der „ersten“ Beobachter machten misstrauisch: Sie waren schon registriert worden, als die Wahlkommission noch nicht existiert hatte. Das ist gesetzeswidrig. In Belarus jedoch erstaunt so etwas niemanden mehr.

In Absprache mit den anderen unabhängigen Beobachtern wurde ich dennoch Teil des Teams. Ich saß im Büro und trug am Telefon die Informationen der Wahlbeobachter zusammen, die es in die Wahllokale geschafft hatten. Sie wurden jeden Tag weniger: Einige wurden festgenommen, anderen ihre Akkreditierung entzogen.

Diejenigen, die sich dazu entschlossen hatten, den Wahlprozess aus der Ferne zu beobachten – von der Straße oder dem Auto aus –, wurden auf unglaubliche Art und Weise behindert. So fand direkt vor dem Fahrzeug, aus dem mein Kollege am Wahltag die Leute zählen wollte, die zum Wahllokal kamen, ein Konzert statt. Ein Kollektiv von Laienkünstlern präsentierte ihr Programm nur deshalb an diesem Ort, um einem Menschen den Blick auf das Wahllokal zu versperren...

Während der vorfristigen Abstimmung schickte mir jemand ein Foto, auf dem ein guter Bekannter von mir abgebildet war. Er saß ganz allein auf der Straße und in der Nähe eine Gebäudes, in dem abgestimmt wurde. Auf dem Boden vor ihm stand eine Tafel mit den Worten „unabhängiger Beobachter“. In der Hand hielt er ein Heft, in dem er notierte, wie viele Leute ins Wahllokal gingen. Kurz nachdem dieses Foto gemacht worden war, wurde er festgenommen.

Als wir später die Gelegenheit hatten, miteinander zu sprechen, fragte ich ihn: „Weißt du, dass du dich von Gesetzes wegen einer Leibesvisitation widersetzen kannst? Ich denke, dass das Folter ist.“ Er kicherte nur und sagte: „Ich möchte nicht auf die gesetzliche Möglichkeit verzichten, ihnen meinen Hintern zu zeigen. Das haben sie verdient.“ Ein unverbesserlicher Optimist.

In der Nacht zum 10. August stand mein Telefon nicht still. Im ganzen Land war das Internet unterbrochen. Einige Zeit kam man noch über einen Proxy-Server ins Netz, doch dann war auch das vorbei. Als einzige Variante blieb nur noch das Telefon, um zu erfahren, was außerhalb des Büros passierte: Schüsse auf friedliche Menschen, Blendgranaten, grausame Prügel für diejenigen, die forderten, die richtigen Ergebnisse der Wahlen zu nennen.

In meiner Heimatstadt Bobruisk kamen keine Blendgranaten zum Einsatz, doch das Ausmaß der Grausamkeit, die Menschen angetan wurde, war unglaublich. Eine vollständige Missachtung des Gesetzes, mit der sogar diejenigen konfrontiert waren, die sich noch nie für Politik interessiert hatten. Irgendjemand ging an einem sommerlichen Sonntagabend nach Hause und fand sich im Untersuchungsgefängnis wieder – erniedrigt, verprügelt und bar jeder Ahnung, warum ihm das angetan worden war. Klar wurde das alles erst später, nachdem die Proteste zu einer neuen belarussischen Realität geworden waren.

Laut Informationen von Wahlbeobachtern aus Bobruisk, die es bis zum Wahltag geschafft hatten, auf freiem Fuß zu bleiben, hatte Swetlana Tichanowskaja gewonnen. Auch Ergebnisse anderer Wahllokale lassen den eindeutigen Schluss zu, dass die 80 Prozent der Stimmen, die die zentrale Wahlkommission für Lukaschenko verkündete, rein gar nicht mit der Realität zu tun hatten.

Jemand ging an einem Sonntag­abend nach Hause und fand sich im Gefängnis wieder

Ich sage mal so: Hätten wir die Möglichkeit gehabt, authentische Zahlen zu bekommen, und Lukaschenko hätte mit einem minimalen Vorsprung gewonnen, hätten sich die Belaruss*innen mit einer weiteren Amtszeit abgefunden. Aber dreiste Lügen und blinde Grausamkeit zu ertragen, das war unmöglich.

Diese schrecklichen Ereignisse haben auch mein Leben komplett verändert. Unter den Menschen, die vor meinen Augen verprügelt und festgenommen wurden, war auch mein Mann. Er kam in Haft, wurde beschuldigt und für etwas verurteilt, was er nicht getan hatte. Danach machten sie in unserer Wohnung eine Hausdurchsuchung und nahmen die gesamte Technik mit, mit der ich und mein Mann – wir sind beide Journalisten – gearbeitet hatten.

Nach dem Motto „Und ewig grüßt das Murmeltier“ begann ein ständiges banges Warten darauf, dass irgendetwas Schlimmes passieren würde. Wenn du Kinder hast, ist die größte Angst, sie könnten zur Verhandlungsmasse in diesem schmutzigen Spiel ums Überleben werden. Und Präzedenzfälle in Belarus, dass Kinder politischer Oppositioneller vom Lukaschenko-Regime als Geiseln genommen wurden, um den Widerstand ihrer Eltern zu brechen, gab es immer häufiger.

Im Kreise der Familie beschlossen wir, unsere Kinder in Sicherheit zu bringen und für einige Zeit das Land zu verlassen. Wir wählten jedoch nicht den schnellsten Weg, um ein Visum für Litauen zu bekommen. Tief im Herzen trugen wir die Hoffnung, dass, bis alle organisatorischen und bürokratischen Fragen geklärt sein würden, sich in unserem Land etwas zum Besseren geändert haben würde und wir bleiben könnten. Doch es gab keine Verbesserungen. Stattdessen verfestigte sich die Wahrnehmung, dass sich Belarus in einem bürgerkriegsähnlichen Zustand befindet.

Vielleicht ist es nicht so verstörend zu begreifen, dass Lukaschenko dich hasst. Aus der Distanz, zusammen mit allen deinen Gleichgesinnten und einfach nur deshalb, weil du eine Bedrohung für seine Macht darstellst. Es ist auch nicht beängstigend zu verstehen, dass dich jeder x-beliebige Mitarbeiter der Omon-Sicherheitskräfte oder praktisch jeder Staatsbeamte hasst, und zwar dafür, weil du seine Position bedrohst, ohne die er sich vor dem Gesetz für seine begangenen Verbrechen verantworten müsste.

Unheimlich wird es dann, wenn du begreifst, dass dich deine Nachbarn hassen, entfernte Verwandte, ja sogar Menschen, die dich nicht kennen. Einfach weil sie glauben, dass du wegen deiner politischen Position eigentlich erschossen werden solltest. So funktioniert Propaganda: Die, die alles verlieren, wenn man sie von der Macht entfernt, überzeugen die Masse derer, die aller Wahrscheinlichkeit nach nichts verlieren, dass sie alle in einem Boot sitzen. Dass sie alle zusammen zugrunde gehen werden.

Seit Kurzem gibt es im Wortschatz der Belaruss*innen einen neuen Begriff: „Umsiedler“. Das klingt nicht so schlimm wie „Flüchtling“. Den meisten von uns erscheint ihre Flucht als etwas Fatales, Unumkehrbares. In unserem genetischen Code gibt es einen Charakterzug: Mensch sein, und das in seiner Heimat. Wohin das Schicksal die Belaruss*innen auch immer verschlägt, sie verlieren ihre Wurzeln nicht.

In diesem Jahr hat die belarussische Diaspora in Dutzenden Staaten ihre Solidarität mit ihrer Heimat und ihren Landsleuten gezeigt. Mit denjenigen, die mit weiß-rot-weißen Flaggen auf die Straße gegangen sind, die Freilassung politischer Gefangener gefordert und denjenigen geholfen haben, die ihr Land verlassen mussten. Auch wir haben Hilfe und Unterstützung in Litauen erfahren. Die Fahrt erschien uns viel länger – wegen kilometerlanger Gedanken und Erfahrungen, die uns dorthin begleiteten.

Wir brachen mit dem Auto an einem Sonntag auf. An diesem Tag sind die Proteste und die Zusammenstöße mit den Sicherheitskräften derzeit am heftigsten. Unser Weg führte durch die Hauptstadt Minsk. Dort finden die größten Protestaktionen und die brutalsten Vertreibungen friedlicher Demonstrant*innen statt. Um mit den Kindern nicht in das Epizentrum der brutal agierenden Sicherheitskräfte zu geraten, beschlossen wir, Minsk auf der Ringautobahn zu umfahren.

Ich bedauere, dass ich nicht im Zentrum von Minsk war. Dort lag zu diesem Zeitpunkt mein enger Freund und Kollege, der berühmte belarussische Menschenrechtler Waleri Schukin, im Krankenhaus.

Wohin es Belarussen auch immer verschlägt, sie verlieren ihre Wurzeln nicht

Wenn wir miteinander telefonierten, hörte ich immer dieses Heitere: „Ich lebe noch!“ Waleri war schon einige Monate lang schwer krank, und jedes unserer Telefongespräche begann mit diesen Worten. Dann wurde mir es immer warm ums Herz.

Einige Tage nachdem wir Belarus verlassen hatten, war Schukin tot. Ich konnte mich nicht persönlich von diesem Freund verabschieden, und bis jetzt habe ich noch nicht realisiert, dass wir uns nicht wiedersehen werden, um den Sieg auf unserem Boden zu feiern...

Die Fahrt nach Vilnius verlief ohne Zwischenfälle. Unser erster Stopp war die kleine Grenzstadt Aschmjany, wo wir in einen Bus umstiegen.

An der Grenze war es windig und es regnete. Zu Hause, sagten Verwandte, schien die Sonne – gleichzeitig wurden unsere Kollegen festgenommen. Sogar als wir die Grenze überquert hatten, war es schwierig, den Informationen über die aktuelle Situation in Belarus zu entrinnen. An unserem neuen Ort angekommen lernten wir viele Belaruss*innen kennen, wir erfuhren von ihrer Geschichte und den Gründen, weswegen sie ihr Land verlassen hatten – es waren die gleichen wie unsere. Die Sicherheit ihrer Kinder war für viele das Wichtigste.

Schukins Worte „ich lebe noch“ klingen jedes Mal wie ein Refrain in meinem Kopf, wenn ich mit Umsiedlern aus Belarus spreche. Sie widerspiegeln diesen seelischen Ausnahmezustand, wenn dir Folgendes klar wird: Frei zu sein und zu leben, jedoch in einem anderen Land – das ist das Beste, was du in dieser Situation tun kannst. Aber von innen zerfrisst dich Trauer: Warum kann ich nicht frei sein und in meiner Heimat leben? Wir werden auf jeden Fall zurückkehren.

Aus dem Russischen: Barbara Oertel