Die Jüngerin

Emmanuelle Bayamak-Tams Roman „Arkadien“ über eine Kommune, in der freie Liebe herrschen sollte

Emmanuelle Bayamack-Tam: „Arkadien“. Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky. Secession Verlag, Zürich 2020, 392 Seiten, 28 Euro.

Von Fokke Joel

Als Farah mit ihren Eltern im Liberty House ankommt, ist sie von der Schönheit des Ortes im Südosten Frankreichs überwältigt: „Sanft abfallender Pinienwald, junge Heidelbeersträucher und von Bäumen zerstäubte Sonnenstrahlen“. „Nur zu, es gehört alles dir“, sagt Arkady, der charismatische Führer der Kommune, und schon flitzt sie los „unter die hohen Bäume, auf das magisch glitzernde Licht zu“.

Es war eine glückliche Zeit, wird sie später sagen. Kein Wunder, denn zuvor hatten sie und ihre Eltern völlig abgeschottet, wie „in einem Sarg“ gelebt. Ihre Mutter litt unter einer Hypersensibilität und der sie liebende Vater unter der Sorge um seine Frau. Am Ende war die Angst vor „Klimaerwärmung, Elektrosmog, Parabenen, Sulfaten, digitaler Steuerung“ unerträglich geworden. „Ohne Arkady wären wir über kurz oder lang gestorben, weil die Panik größer war als unsere Fähigkeit, sie auszuhalten. Statt Krankheit, Wahn oder Selbstmord hatte er uns eine wundersame Alternative geboten. Er hatte uns in Sicherheit gebracht. Er hatte zu uns gesagt:,Fürchtet Euch nicht!‘“

In Emmanuelle Bayamak-Tams Roman „Arkadien“ ist es den anderen Bewohnern der alten, zuvor als katholisches Mädchenpensionat genutzten Villa irgendwo im Südosten Frankreichs nicht anders ergangen. Auch sie kamen mit der real existierenden Welt nicht zurecht. Es sind die Unansehnlichen und Gebrechlichen und nicht die Schönen und Erfolgreichen, die unter den Fittichen Arkadys Schutz gesucht haben. „Liebe besiegt alles“ hat er sich zwischen die Schulterblätter tätowieren lassen. „Liebe besiegt alles“, sagt Farah, „wer wüsste das besser als ich, nachdem ich erleben durfte, wie er den Wahn meiner Eltern besiegt hat, ihre Soziopathie, ihre krankhafte Unentschlossenheit, ihre suizidalen Anwandlungen, ihre depressiven Anfälle, ihre vielfältigen Phobien.“ Das Liberty House soll ein Ort der freien Liebe sein, ein Ort, in dem alle frei sind und niemand zu etwas gezwungen wird.

Weil ihre Eltern zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind, werden die anderen Bewohner schnell zur Ersatzfamilie für Farah. Und wie das so ist, nimmt die Ambivalenz der Gefühle gegenüber dieser Familie mit zunehmenden Alter zu. Mit Anfang zwanzig, als sie ihre Geschichte in „Arkadien“ zu erzählen beginnt, schwankt ihr Blick auf die Kommune deshalb zwischen Ironie und Sarkasmus. Das gilt auch für Arkady, über dessen Predigten sie sich lustig macht. Aber – im Gegensatz zu ihren Eltern – hat er sich um sie gekümmert. Lange ist sie seine eifrigste Jüngerin gewesen und er war ihre erste große Liebe.

Überzeugend lässt Emmanuelle Bayamak-Tam ihre Erzählerin von ihrer Leidenschaft für den äußerlich unattraktiven Guru erzählen. Ihre erste Freundin, die sie auf einer Lesbenparty in der nahe gelegenen Stadt kennenlernt, ist entsetzt. „Was? Du hast mit diesem Typen gepennt, eurem Guru? Das ist ja ekelhaft!“ „Es hat mich doch keiner gezwungen“, antwortet sie, „ich wollte es so.“ Aber auch Farahs Irritierung über ihre geschlechtliche Identität erzählt Bayamak-Tam mit einer Selbstverständlichkeit, die überzeugt. Ganz sicher, ein Mädchen zu sein, hadert sie mit ihrem immer männlicher werdenden Körper. Nachdem sie mit 15 immer noch keine Regel hat, fährt Arkady sie zu einer Frauenärztin. Die stellt fest, dass Farah das Küster-Hauser-Syndrom aufweist, dass sie zwar eine Vulva, aber keine Vagina hat und ihr die Eierstöcke fehlen. Auf der Rückfahrt fragt sie verzweifelt: „Wer bin ich überhaupt?“ Doch für Arkady, für den die Liebe alles besiegt, ist auch das kein Problem. „,Farah, hör mit dem Scheiß auf. Wenn du nicht weißt, wer du bist, kann ich es dir gerne sagen!‘ Ich will nicht, dass er es mir sagt. Ich will, dass er schweigt. Wer ich bin, das geht nur mich was an.“

Getragen wird „Arkadien“ von der Schreibweise, dem Witz und der Ironie ihrer Erzählerin. Sie zieht den Leser durch den Text. Das Ende des Romans ist dann überraschend. Das ist einerseits literarisch begründet, denn Farah sieht vieles aufgrund ihrer subjektiven Perspektive nicht. Andererseits wird in diesem Moment deutlich, dass sie auch viele der Widersprüche, die das Paradies auf Erden mit sich bringt, nicht sehen will. Wer würde sich schon die Erinnerung an eine glückliche Kindheit kaputtmachen lassen? Erzählerisch entfaltet werden deshalb die Probleme, die viele der Versuche des Aussteigerlebens und der freien Liebe überschattet haben, dadurch nicht.