piwik no script img

So viel Kritik muss sein: Cornelius Runtsch über „Aus den Akten“Leise raschelt das Unrecht

Der Leistungssteigerung müsse „jedes andere untergeordnet werden“, befindet 1939 Oberregierungsrat und Syndikus der Bremer Industrie- und Handelskammer: Doktor Karl Kohl. Er lässt das sogenannte „Arbeitserziehungslager Farge“einrichten, wo die unterernährten und vermeintlich nur faul auf den Klos herumlungernden Rüstungsarbeiter diszipliniert und gewaltsam zu fleißigen „Soldaten an der Heimatfront“umerzogen werden sollen.

Das war der Beginn der fünfjährigen Schreckensgeschichte um den Bau des U-Boot-Bunkers Valentin im Bremer Norden. Auf der Bühne zu erleben ist die Geschichte derzeit bei der Bremer Shakespeare Company, die das Stück „Erziehen, erzwingen, erniedrigen. Das Arbeitserziehungslager in Bremen-Farge (1940-1945)“als jüngsten Teil der Reihe „Aus den Akten auf die Bühne“mit ein paar Monaten Coronaverspätung aufführt. Wie in der Reihe üblich kommen ausschließlich Originalquellen zu Wort, die Student*innen der Uni Bremen, unter Anleitung der Historikerin Eva Schöck-Quinteros, geborgen haben: Briefe, Anordnungen oder Zeugenaussagen, die nicht nur für diese szenische Lesung Verwendung fanden, sondern auch mehr als 700 Seiten einer zweibändigen Publikation füllen.

Mit seiner rund zweistündigen Bühnenfassung ist es Schauspieler Peter Lüchinger nun gelungen, die trotz aller Schrecken eher trockenen Aktenpassagen einer dynamischen Geschichte zu verdichten. Obwohl die Akten chronologisch verlesen werden, mangelt es dem Text nicht an Spannung. Dabei ist das Bühnengeschehen stark reduziert: Das Ensemble sitzt auf alten, hölzernen Bürostühlen, die im ersten Akt noch mit Stellwänden voneinander getrennt sind. Die Schauspieler*innen tragen allesamt biedere, graue Anzüge. Menschenverachtung trifft auf die anonyme Verwaltungsatmos­phäre der NS-Bürokratie.

Petra-Janina Schultz, Simon Elias und Markus Seuß schlüpfen abwechselnd in die Rollen von Gestapofunktionären, Wachmännern und Ministern, deren Anweisungen, Rapporte und Strafanweisungen sie wie maschinell vorlesen – manchmal synchron, sodass sich diese historischen Texte zum banal-bösen Stimmengewirr der Schreibtischtäter verdichten. Selten brechen Emotionen­ durch, die aber auch dann nicht von Mitgefühl zeugen. So bettelt Peter Lüchinger als Kohl einmal geradezu flehentlich bei Heinrich Himmler um verschärfte Gesetze, um „Bummelantentum“und „Arbeitssabotage“in den Griff zu bekommen. Gekoppelt mit den Dokumenten ermöglicht das minimalistische Spiel, die Grausamkeit der NS-Bürokratie zu vermitteln.

Der zweite Akt verlässt schließlich die Nazizeit und begleitet Gerade-noch-NSDAP-Mitglied Karl Kohl auf seinem Weg zur Entnazifizierung. Die Trennwände sind von der Bühne verschwunden, und das Büro wird zum angedeuteten Gerichtssaal, in dem sich die NS-Täter zu rechtfertigen haben. Schuldabwehrend stilisiert sich Kohl in den protokollierten Aussagen und Briefen dieser Zeit nun selbst als Opfer des NS-Terrors und verlangt Rehabilitierung. Mit Erfolg: Nach seinem Tod in den 70er-Jahren wird er von der Bremer Industrie- und Handelskammer ob seiner redlichen Verdienste für die freie Wirtschaft Bremens geehrt. Das ist der zweite Skandal in dieser Tätergeschichte: Die von deutscher und alliierter Justiz so nachlässig betriebene Strafverfolgung. Und das hängt dem Abend lange nach, obwohl es nicht mit erhobenem Zeigefinger oder der emotionalen Wucht des Opferleids erzählt – sondern allein aus staubigen Gebrauchstexten geborgen wurde.

„Erziehen, erzwingen, erniedrigen“: Wieder zu sehen am Mi., 30. 9., und Do., 29. 10., 19.30 Uhr, Theater am Leibnizplatz

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen