Wir stellten uns vor, wie unsere Haut verhärtet

Stephan Roiss erzählt in seinem Debüt „Triceratops“ von einer traurigen Kindheit zwischen biederer Frömmigkeit, Esoterik und Psychopharmaka-Konsum

Stephan Roiss: "Triceratops". Kremayr & Scheriau, Wien 2020, 208 Seiten, 20 Euro

Von Marlen Hobrack

Der Junge kritzelt unablässig Monster in sein Zeichenbuch, er spricht von sich als „wir“ und kratzt sich die Arme blutig. Währenddessen verbringt die ältere Schwester ihre Zeit damit, 12- oder 20-seitige Würfel zu werfen oder die geliebten Flusskrebse des kleinen Bruders zu vergiften.

Der namenlose Protagonist aus Stephan Roiss’Roman „Triceratops“ – er durchlebt keine glückliche Kindheit. Ein Fluch lastet auf der Familie, so jedenfalls glaubt es seine Tante zu wissen. Seit die schwangere Mutter des Namenlosen den Leichnam des erhängten Großvaters auffand und der Fluch in sie schlüpfte, ist sie nicht mehr dieselbe. Psychiatrieaufenthalte, Medikamente, der Sohn muss ihr im Alltag beistehen, sie trösten, streicheln, eincremen. Er hasst es, er hasst die Mutter. Der Vater kocht unterdessen Frankfurter Würstchen, mehr kann er nicht.

Alle Hoffnung ruht auf dem Jungen. Die Mutter klammert sich an ihn. Die Tante glaubt, dass er stark ist, stark genug, dem Fluch zu entgehen. Sie irrt. Nicht nur der Junge wirkt in dieser klaustrophobisch-engen, zugleich haltlosen Familienaufstellung verloren; auch der Leser wird mit jeder gelesenen Seite des schmalen Romans in die Tiefen des familiären Abgrundes gezogen. Immerhin, der Leser kann entkommen.

Roiss schildert eine Welt wie im Albtraum ohne Ende. Bis ins kleinste Detail ist die Welt zerfallen, haltlos, brüchig. Selbst dem Puzzle des verstorbenen Großvaters fehlen die wichtigsten Teile. Einziger Lichtblick sind die Tage bei der Großmutter, die sich liebevoll in bäuerlich-einfacher Umgebung um das Kind kümmert. „Das heißt nicht Plüschiater“, belehrt die Großmutter einmal das Kind, das seine Welt nicht in Worte fassen kann.

Der Junge fantasiert nicht nur von Monstern, sondern auch von Drachen. In der väterlichen Bibel unterstreicht er die Stellen, in der Drachen Gläubige bedrohen. Wie im Zwang. Nicht nur er leidet unter Zwängen. „Mutter las Beipackzettel und Kalorientabellen, Vater die Evangelien und Teletext.“ Die Familie lebt wie in einer Zwischenwelt, wie sediert von biederer Frömmigkeit, esoterischem Aberglauben und Psychopharmaka-Konsum.

Mutters Berührungen

Mal nüchtern, mit einer traurigen Beiläufigkeit, mal poetisch schildert der Ich-Erzähler sein Leben als heranwachsendes Wir. „Wir stellten uns vor, wie unsere Haut verhärtet, zu einem Schuppenpanzer wird, der dem Druck von Mutters Berührungen nicht nachgibt.“ Dieser Roman ist gewiss keine leichte Lektüre. Und die größte Katastrophe steht dem Namenlosen noch bevor: Auch die Schwester wird vom „Familienfluch“ befallen. Er gleitet durch eine nihilistische Welt, in der Liebe allenfalls eine kurzfristige Verheißung ist; eine Verheißung, die beispielsweise in Form eines Punkmädchens auf ihrem Skateboard heranrollt. Sie wird dem Jungen schließlich sagen, dass er wie „behindert“ fickt. Jede Hoffnung stirbt, bevor sie ganz zur Realität geworden ist.

Roiss ist Jahrgang 1983, studierte am Literaturinstitut in Leipzig. Dass es das Romandebüt des Österreichers auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat, überrascht angesichts der dichten, psychologisch nuancenreichen Schilderung nicht. Besonders die Vervielfachung des Ich-Erzählers in ein Wir, noch dazu ein namenloses, ist reizvoll. Nicht nur spiegelt sich darin die fundamentale Einsamkeit des Kindes, sondern auch ein interessanter Bruch mit der Erzählkonvention: Wer ist „ich“ in einem literarischen Text? Wer spricht da? Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus. Es zerfällt, wird erzählt.

Einziges Manko des Textes, jedenfalls für den unbedarften Leser: Man fühlt sich von der anhaltenden Trost- und Hoffnungslosigkeit regelrecht überfahren. Nicht dass man ein Happy End erwarten würde. Aber der Autor lässt dem Leser nicht den kleinsten Funken Hoffnung auf Glück für seinen Protagonisten. Ein Roman allerdings, der so nachhaltig dem Lesenden den Boden unter den Füßen wegzieht, auch der ist große Erzählkunst.