: Böckingen statt Barcelona
Nach dem Wiederaufstieg in die erste Fußball-Bundesliga plant der VfB Stuttgart das Projekt Klassenerhalt. Im Rahmen dieser Übungen geschehen freilich Dinge, die unseren Autor fast sprachlos zurücklassen.
Von Christian Prechtl↓
Der Welten Läufte derzeit zu verstehen, ist nahezu unmöglich. Kurz vor Ferienende, kurz bevor Millionen Kinder wieder in die Schulen strömen, in Klassenzimmern und Gängen und Bussen und Bahnen sich drängeln, da liest man von Firmen, die nach einem positiven Coronabefund allen Mitarbeitern einen Test anbieten. Von 150 Mitarbeitern lassen sich 60 testen, 29 bekommen ein positives Ergebnis. Wohlgemerkt: Es handelt sich nicht um einen Swingerclub oder einen Rave, sondern um ein mittelständisches Unternehmen, eines von vielen, in denen Kolleginnen und Kollegen tagein tagaus sich begegnen, in geschlossenen Räumen arbeiten. Und unser Minischdrbrässidend Kretschmann verweist fast täglich auf das AHA-Prinzip aus Atemschutz, Hygiene und Abstand. Aber die Schulen öffnen ganz normal, was soll man sagen?
Was soll man sagen zu Delivery Hero, das die Jungs von Wirecard im Dax ersetzt? Was zu den USA, wo die Republikanische Partei, die so genannte Grand Old Party, den verhaltensgestörten Donald Trump erneut zum Präsidentschaftskandidaten kürt? Was ist los bei Erdogan und den Griechen, gibt es Krieg, da wo wir sonst Urlaub machen? Warum sind schamlose Lobbyisten wie Frau von der Leyen, Frau Klöckner, Herr Altmaier und Herr Scheuer immer noch in Amt und Würden?
Wie kaputt ist die Welt, frage ich mich, und als ob das alles noch nicht genug wäre, kommt mir auch noch der VfB Stuttgart in den Sinn, sicherlich nicht mehr als ein Nasenwasser gegen all die kleinen und großen Katastrophen, es ist nur ein Spiel, wenn auch eines um Millionen. Aber ernsthaft: Der VfB will mit diesem Kader die Klasse halten?
Einen bundesligatauglichen Kader hatte er schon lange nicht mehr, dieser VfB. Aber jetzt hat er nicht mal mehr einen Kader. Verletzt aus dem Trainingslager abreisen mussten Erik Thommy (zwischenzeitlich angeblich eine unserer ganz großen Stützen, nachdem unser Sportvorstand ihn kurz zuvor am liebsten gar nicht mehr aus Düsseldorf zurückgeholt hätte), Lilian Egloff (eine unserer ganz großen Hoffnungen, obwohl noch ohne jede Spielminute in der ersten Liga und mit nur ganz wenigen in der zweiten), Roberto Massimo (dessen Einsatzminuten in Liga Zwei sich ebenfalls an einer Hand abzählen lassen) und Philipp Förster. Die noch nicht verletzten Spieler um den verletzungsanfälligen Verschwörungstheoretiker Daniel Didavi (über dessen Problemknie der ehemalige VfB-Trainer Alexander Zorniger einst sogar öffentlich lästerte) haben sicherlich, wie es Sven Mislintat betonte, zuletzt „einen Sprung gemacht“. Allerdings: Mit einer solchen Truppe ernsthaft das Projekt Klassenerhalt anzugehen, das grenzt schon an Größenwahn. Oder es ist ein Zeichen kompletter Überforderung. Oder beides.
Nicht, dass es keine Möglichkeiten gegeben hätte, auch ohne das ganz dicke Festgeldkonto richtig gute Spieler zu bekommen. Denn, Hallo und Winkewinke, wer war denn da im Stadion im Spiel des VfB gegen Arminia Bielefeld am 9. März 2020? Wer war zuvor auf der Geschäftsstelle, um mit Thomas Hitzlsperger und Markus Rüdt den Grundstein zu legen für eine Kooperation? War das nicht der Sportdirektor des FC Barcelona als Kopf einer dreiköpfigen Delegation? War das nicht Ramon Planes, durchaus gewillt, mit einem so genannten Traditionsverein sich auszutauschen mit dem Ziel, Spielern auf dem Sprung in Barcas erste Mannschaft in der deutschen Bundesliga Spielpraxis zu geben, sich im Bereich der Jugendarbeit gegenseitig zu befruchten, Leihgeschäfte zu machen, einen Kontakt zu etablieren, wie ihn etliche andere Clubs längst pflegen?
Details zum Verhalten unserer superprofessionellen AG-Granden gegenüber der sportlichen Führung des FC Barcelona sollen an dieser Stelle zunächst einmal vornehm verschwiegen werden – der Spanier an sich würde sie wohl unter dem Begriff „maleducado“, freundlich gesagt: unhöflich, subsumieren. Und sicherlich muss auch berücksichtigt werden, dass nach dem Spiel gegen Bielefeld und dem tags darauf folgenden Champions League Match von RB Leipzig gegen die Tottenham Hotspurs der Fußball europaweit zum Erliegen kam.
Aber sich nach dem Besuch der Katalanen im eigenen Stadion danach monatelang nicht ein einziges Mal zu rühren, keine Frage nach dem Befinden in einem Lockdown, gegen den die Situation hierzulande geradezu vergnügungssteuerpflichtig war, kein Danke für den Besuch, kein Bekunden irgendwelchen Interesses an einer wie auch immer gearteten Kooperation, kein gesondertes Interesse an Spielern, hinter denen halb Europa her ist – was zur Hölle denken sich unsere Leute, frage ich mich?!
Die Katalanen kommen – Böckingen wird genommen
Warum setzt unser Sportdirektor Sven Mislintat nicht alle Hebel in Bewegung, einen Moussa Wagué für die Außenbahn zu bekommen, als Leihspieler? Einen Mann, der Artüüüür Boka nicht nur körperlich sondern auch fußballerisch deutlich überragt? Einen Mann, den Barcelona nach monatelangem Stuttgarter Schweigen sogar explizit vorgeschlagen hat? Warum nicht alles Menschenmögliche unternehmen, um einen Spieler wie Pedri zu bekommen, den nicht nur die halbe Bundesliga, sondern auch die halbe Premier League lieber heute als morgen verpflichten würde? Und wir hätten ihn nicht mal verpflichten müssen. Wir hätten ihn leihen können!
Und selbst wenn man, unverständlicherweise, an genannten und anderen Spielern aus welchen Gründen auch immer kein Interesse hat – dann sagt man doch wenigstens kurz: „Dankeschön, tolle Jungs, aber wir haben leider andere Pläne mit unserem Kader.“ Da führt man sich doch nicht auf, als wäre man Coriolanus Snow aus den Hunger Games, und der Sportdirektor des FC Barcelona wäre irgendein Hungerhaken aus Distrikt 12.
Aber so sind wir eben beim VfB Stuttgart. Wir halten uns für die Allergrößten und benehmen uns dabei wie die Allerletzten. Und verkünden stolz eine Kooperation mit der Jugendabteilung des zwischenzeitlich mit anderen Heilbronner Erfolgsmodellen zum Super-Erfolgsmodell FC Union Heilbronn fusionierten FV Union Böckingen, während wir gleichzeitig den anklopfenden FC Barcelona einfach ignorieren.
Und noch schlimmer: Nach Monaten rufen wir dann irgendwann in der Nacht bei Barca an und stellen Fragen, die jeden halbwegs klar denkenden Menschen vermuten lassen, beim VfB seien sie entweder betrunken oder übergeschnappt, und der eine wisse nicht, was der andere tut. Oder warum sonst fragt der eine mitten in der Nacht nach einem Torwart – und der andere sagt, ja was denn, wer fragt denn sowas, wir haben doch schon drei?
Eine sportliche Führung, die sich so verhält – was soll man dazu sagen? Wie soll man solches Verhalten nennen, wenn nicht größenwahnsinnig oder komplett überfordert? Oder beides? Fragen Sie mich besser nicht, was ich drüber denke …
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