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Der Untergang von Dithmarschen

Fließende Grenze zwischen dokumentarischem und fiktionalem Erzählen: Philipp Hartmanns Wasser-Essay „Virar Mar – Meer werden“ feiert auf dem Hamburger Filmfest Premiere

Träumen möglicherweise von Dithmarscher Fluten: Schwimmende in einem brasilianischen Teich Foto: Philipp Hartmann

Von Wilfried Hippen

„Moin“ ist das erste Wort, das gesprochen wird: So begrüßt der Hamburger Filmemacher Philipp Hartmann mit dieser Einstellung buchstäblich Publikum zu „Virar Mar – Meer werden“. Zugleich verunsichert er es aber auch, denn nachdem im Film zögerlich mit einem eher missmutigen „Moin“ geantwortet wird, haben die beiden typisch norddeutsch wirkenden Protagonisten einen alles andere als alltäglichen Dialog. Der eine stellt sich als „Charon“ vor, der andere weiß sofort, dass dies der Name des Fährmanns ist, der in der griechischen Mythologie die Toten über den Fluss Styx in die Unterwelt Hades bringt. Doch beide sind nur auf einer Fähre, die sie sicher und lebendig über den Nord-Ostsee-Kanal bringt.

Hartmann, der eine wissenschaftliche Doktorarbeit über „ökonomische Mechanismen in der Wasserpolitik Brasiliens“ geschrieben hat, sieht das Wasser in seinem neuen Film eher als eine Metapher. So suchte er nach alten Mythen und neuen Geschichten von Meer und Land, Flut und Dürre. Gedreht hat er seinen Essayfilm im Schleswig-Holsteinischen Dithmarschen und im Sertão in Brasilien. Im Katalog des Hamburger Filmfests wird „Virar Mar – Meer werden“ als Hybrid eingeordnet.

Tatsächlich sind darin die Grenzen zwischen dokumentarischem und fiktivem Erzählen fließend. Wie zwischen den Drehorten, so springt der Film auch zwischen Erzähl­ebenen und filmischen Stilen hin und her. Der Grundkon­trast besteht dabei darin, dass es in Dithmarschen zu viel Wasser gibt und im Sertão zu wenig: Dort im halbwüstenartigen brasilianischen Binnenland regnet es nur an wenigen Tagen im Jahr, und die Talsperren, vor vielen Jahren zur Wasserversorgung angelegt, sind inzwischen nur noch kleine Tümpel oder ganz ausgetrocknet. Dithmarschen ist dagegen, wie viele Küstenregionen, durch das Ansteigen des Meeresspiegels bedroht.

Hartmann erzählt insofern eine Geschichte aus einer vielleicht nahen Zukunft: Die Deiche sollen geöffnet werden, Dithmarschen würde überflutet – weil nicht mehr zu retten. Nur ein alter Musiker weigert sich, den Aufforderungen zur Evakuierung Folge zu leisten. Stattdessen spielt er noch einmal Bach auf der Kirchenorgel seines Heimatortes, und die Noten blättert ihm dabei ein Engel in Gummistiefeln um.

Im Sertão wird das Trinkwasser von Wasserverkäufern angeliefert, in Dithmarschen geht auf dem Marktplatz von Heide ein monsunartiger Sturzregen nieder, wie es sie seit einigen Jahren immer häufiger gibt. Von drei jungen Frauen, die in Brasilien in einem Teich schwimmen, der einmal ein Stausee war, wird zu zwei jungen Frauen auf einem norddeutschen Bootsteg geschnitten. Eine von ihnen schildert ihre Angstträume von der Hamburger Sturmflut 1962.

In Dithmarschen gibt es zu viel Wasser, im brasilianischen Sertão zu wenig

Eine Geschichte wurde sogar direkt von hier nach dort verpflanzt: Theodor Storms Novelle „Der Schimmelreiter“ – unter dem Titel „O Centauro Bronco“ auch in Brasilien verlegt –, wurde so umgeschrieben, dass die Geschichte nun im Sertão spielt und statt vom Ertrinken vom Verdursten handelt. Eine identische Szene führt im Film nun erst das Ensemble der Norden-Theaterproduktion in traditionellen Trachten auf einem Deich auf, später tun das dann die Laienschauspieler*innen eines brasilianischen Volkskinos, dessen Regisseur die Filmemacher zufällig bei den Dreharbeiten getroffen haben.

Das Drehbuch hat Hartmann zusammen mit seinem brasilianischen Kollegen Danilo Carvalho geschrieben, der auch mit Regie geführt hat. Ihre Erzählweise ist stark assoziativ und setzt viel guten Willen bei ihren Zuschauer*innen voraus – einige entscheidende Informationen erhält das Publikum erst am Ende des Abspanns. Dann erfährt es etwa auch die Drehorte sowie Namen und Funktionen der Darsteller*innen.

Neben den für Uneingeweihte teils schwer zu erkennenden Bezügen schreckt Hartmann auch vor Kalauern nicht zurück: So ist er an die Ostsee nach Schönberg gefahren, nur um dort das Ortsschild eines Ortsteils aufzunehmen: „Brasilien“.

„Virar Mar / Meer werden“. Regie: Philipp Hartmann, Danilo Carvalho. Mit Johannes Kirschbaum, Fernando Pimentel u. a. D 2020, 85 Min.

Weltpremiere: Di, 29. 9, 18.30 Uhr, Metropolis. Weitere Vorstellung: Mi, 30. 9., 18.45 Uhr, Studio

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