die woche in berlin
: die woche in berlin

Berlin will Geflüchteten aus Moria die Zusammenführung mit Angehörigen in Berlin erleichtern – doch die Sache hat einen Haken. Dass Enteignungen verfassungsgemäß sind, hat nun auch die Innenverwaltung bestätigt – mit deutlichem Zähneknirschen. Das Internationale Literaturfestival Berlin hat live und in echt stattgefunden – zur Freude der Gäste

Menschlichkeit mit Hintertürchen

Erleichtert Berlin im Alleingang die Aufnahme Geflüchteter?

Es passiert nicht oft, dass man den Eindruck hat, Politiker hätten Überzeugungen, für die sie auch gegen Widerstände einstehen. Beim Thema Moria beziehungsweise Geflüchtete in Griechenland scheint es bei führenden Köpfen von Rot-Rot-Grün so zu sein.

Seit Wochen versuchen sie Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU und bekannt für seine Bekenntnisse zu „christlicher Nächstenliebe“) davon zu überzeugen, dass er seinen Widerstand gegen das Berliner Landesprogramm zur humanitären Aufnahme von 300 Kindern und Müttern aus dem Geflüchtetenlager auf der griechischen Insel Lesbos aufgibt. Und weil sie inzwischen wissen, dass sie bei ihm auf Granit stoßen, haben sie am Donnerstag mit ihrer Entschließung zu Moria im Abgeordnetenhaus auf ein paar juristische Winkelzüge zurückgegriffen, die ihnen der Republikanische Anwaltsverein eingegeben hat.

Die JuristInnen hatten vorige Woche rechtliche Spielräume vorgestellt, die das Land zur Aufnahme von Geflüchteten nutzen kann, ohne dabei auf Seehofers Einverständnis warten zu müssen. Dazu gehört etwa die Forcierung der Familienzusammenführung für Geflüchtete aus Moria mit Angehörigen in Berlin: Sie soll erleichtert werden durch den Verzicht auf die Bedingung, dass die Angehörigen für den Lebensunterhalt der Neuankömmlinge sorgen müssen – sonst eine große Hürde.

Dies soll der Senat nun tatsächlich umsetzen. Leider scheint die Abgeordneten auf halbem Weg der Mut verlassen zu haben. Laut Beschluss ist nämlich nur „zu prüfen“, ob auf die Sicherung des Lebensunterhalts verzichtet werden kann, das Einwanderungsamt wird nur „gebeten“, dies zu tun. Wer weiß, wie die frühere Ausländerbehörde für gewöhnlich tickt, kann sich ausmalen, was die Betonköpfe dort mit dieser Bitte tun werden: sie ignorieren.

So sieht die schwache Formulierung verdächtig nach einem Hintertürchen aus, nach dem Motto: Wir hätten ja mehr für Geflüchtete getan, aber die Verwaltung hat – leider, leider – nicht mitgezogen. Gut möglich, dass dies zumindest Teilen der SPD gar nicht so unrecht wäre, die wie immer nicht weiß, ob sie staatsmännisch oder menschlich agieren soll. Etwa Frank Zimmermann, Sprecher für Europa, der am Donnerstag verlauten ließ: „Berlin steht für Humanität und europäische Solidarität. Mehr denn je ist aber ein abgestimmtes Handeln der EU erforderlich.“

Aber keine Bange, R2G: Die interessierte Öffentlichkeit wird aufmerksam verfolgen, ob hier Lippenbekenntnisse zu Papier gebracht wurden oder ob Berlin wirklich Geflüchtete in nennenswerter Zahl von den Inseln holt. Denn es stimmt ja: „Wir haben Platz“!

Susanne Memarnia

Kundgebung von Seebrücke, Flüchtlingsrat etc.: Samstag, 14 Uhr, Wittenbergplatz

Es passiert nicht oft, dass man den Eindruck hat, Politiker hättenÜberzeu-gungen, für die sie auch gegen Widerstände einstehen

Susanne Memarniaüber R2G und die Aufnahme Geflüchteter aus Moria

Bestätigung
mit
Zähneknirschen

Senat erklärt Volksbegehren DW enteignen für zulässig

Die Argumente gegen das Volksbegehren Deutsche Wohnen und Co enteignen sind immer dieselben: zu teuer, Enteignungen schaffen keinen neuen Wohnraum und überhaupt ist das doch ganz schlimmer Sozialismus im „failed state“ Berlin. Diese Einwände ploppten natürlich auch wieder auf, nachdem Andreas Geisels (SPD) Innenverwaltung das Volksbegehren Deutsche Wohnen und Co enteignen am Donnerstag für rechtlich zulässig erklärte.

Die Argumente sind zwar teilweise nachvollziehbar, aber kurzfristig gedacht. Natürlich sind Enteignungen mit grob irgendwas zwischen BER (7,3 Milliarden Euro) und dem aktuellen Berliner Jahreshaushalt (31 Milliarden Euro) teuer. Allerdings ist es genauso wie beim ähnlich teuren Vorkaufsrecht im Mileuschutzgebiet: Das Geld wird ja nicht verbrannt, sondern investiert. Berlin würde schließlich Wohnraum für seine Bewohner zurückkaufen. Und die Finanzierung müsste nur zum Teil aus dem laufenden Haushalt kommen, den Großteil könnte man über Kredite bezahlen, deren Zinsen sich bei wirtschaftlichem Wachstum relativieren.

Zudem käme ein großer Teil der hier bezahlten Mieten nicht mehr ohnehin schon zu reichen Anteilseignern wie Blackrock zugute, sondern kommunalen Wohnungsgesellschaften, die sich an soziale Standards halten und günstige Mieten garantieren müssen.

Und natürlich muss parallel gebaut werden – niemand hat etwas anderes behauptet. Aber um das derzeit größte soziale Problem, steigende Preise für Wohnraum bei gleichzeitigem Lohndumping, in den Griff zu bekommen, braucht es staatliche Eingriffe. Wohnraum muss dem Markt entzogen werden.

Dass Enteignungen verfassungsgemäß sind, bestätigt zähneknirschend nun auch die SPD-geführte Innenverwaltung. Im Gegensatz zum Mietendeckel sind Enteignungen rechtlich unstrittig. Mit dem Artikel 15 des Grundgesetzes lassen sich ganze Wirtschaftszweige sozialisieren und eben auch Grund und Boden nebst darauf befindlicher Immobilien.

Der Artikel war zur Gründung der Bundesrepublik übrigens ein Zugeständnis an die SPD. Gut 50 Jahre später hat sie in Berlin zusammen mit der Linken die Wohnungen ihrer Wähler:innen verkauft. Auch deshalb ist es eine Frechheit, dass die Prüfung eines stadtpolitisch so kontroversen wie wichtigen Anliegens 441 Tage dauerte. Man darf davon ausgehen, dass diese Verzögerung politisch motiviert war. Die Linke will die Fehler der Vergangenheit zumindest wiedergutmachen. Auch die Grünen sprechen sich für Enteignungen aus. Die SPD sollte es ihnen gleichtun und nicht weiter blockieren.

Städte und Medien weltweit schauen zu Recht auf Berlin: Milieuschutzgebiete, Vorkaufsrecht und Mietendeckel sind Blaupausen für eine gerechtere Wohnungspolitik. Getrieben wurde R2G dabei von zivilgesellschaftlichen Mieterbündnissen. Allein dafür ist es gut, dass es Initiativen wie das Volksbegehren Deutsche Wohnen und Co enteignen gibt. Nicht umsonst wird Berliner Mietenpolitik mittlerweile international kopiert. Gareth Joswig

Literatur ist
ein einsames Geschäft

Weniger zahlendes Publikum und gute Stimmung beim ILB

Zur Zeit weiß noch niemand, wie hoch die Spenden, die Besucher- und Klickzahlen der verschiedenen Veranstaltungsformate waren. Doch wenn am heutigen Samstag mit einigen wenigen Lesungen im ehemaligen Krematorium in Wedding mit dem makabren Namen Silent Green das 20. Internationale Literaturfestival Berlin (ILB) zu Ende und es danach ans Zählen geht, dürfte ziemlich sicher sein, dass deutlich weniger Zuschauer das Festival besucht haben als in den Vorjahren.

Seit 2001 nahmen mehr als 2.500 AutorInnen aus mehr als 120 Ländern am ILB teil. Es ist die wichtigste literarische Großveranstaltung in Deutschland nach den beiden Buchmessen. Doch in diesem Jahr musste etwa die Hälfte der AutorInnen per Video zugeschaltet werden. Wegen der Hygienevorschriften konnten in den Veranstaltungen weit weniger als halb so viele Menschen wie sonst sitzen. Außerdem gab es in diesem Jahr zum ersten Mal digitale Veranstaltungen, die kostenfrei zugänglich warum. Darum bat wohl auch das Festival offensiver denn je um Spenden, die man sogar per Paypal überweisen konnte, oder um Eintritt in den Verein der Freunde und Förderer, in dem man sich bereits Mäzen nennen darf, wenn man jährlich mehr als 2.500 Euro zu spenden bereit ist.

Und trotz alldem wird Ulrich Schreiber, der umtriebige Gründer und Leiter des Festivals, in diesem Jahr mit noch mehr Lob überschüttet werden als in den Vorjahren. Denn anders als viele Großveranstaltungen wie beispielsweise die Frankfurter Buchmesse in diesem Oktober hat das Festival immerhin stattgefunden, und zwar live und in echt.

Besonders in den lauen, den letzten Berliner Sommernächten Anfang dieser Woche stand den Menschen vor und auf der Bühne, aber auch zwischen den Lesungen auf den Wiesen vor dem Krematorium die Erleichterung und die Freude nach sieben Monaten mehr oder minder vollständigem Rückzug ins Private regelrecht ins Gesicht geschrieben. „Viele Besucher*innen hier in Berlin sind dankbar, endlich wieder Veranstaltungen besuchen zu können. Die Autor*innen nehmen es als beglückend wahr, wieder vor Publikum auftreten zu können“, sagt Julia Thiel, Pressesprecherin des Festivals.

Literatur ist sowieso ein einsames Geschäft, sowohl auf Seiten derer, die sie produzieren, als auch auf Seiten derer, die sie konsumieren. Wenn man sich dann nicht einmal mehr ab und zu von Angesicht zu Angesicht austauschen darf, fühlt man sich vollends wie ein Maulwurf, der sein Leben größtenteils unter Tage fristet. Und der Austausch im Digitalen ist insofern nur ein schwacher Trost, als dass man im Netz in der Regel nur findet, was man sucht.

Zufällige Begegnungen, unerwartete Einblicke und all das Interessante, was zwischen den Zeilen steht: Das erlebt man nach wie vor am besten im Hier und Jetzt der guten alten analogen Welt.

Susanne Messmer