Körperlich Präsenz zeigen

Die Literatur hat die Gabe, uns zu zeigen, dass etwas schiefläuft: Am Anfang des 20. Internationalen Literaturfestivals Berlin, das der Pandemie reale Begegnungen abtrotzt, stehen Gemeinplätze berühmter Leute

Viel Raum und Luft gibt‘s im Kammermusiksaal bei der Eröffnungsrede des großen lateinamerikanischen Liberalen Mario Vargas Llosa Foto: Ali Ghandtschi

Von René Hamann

Offiziell gibt es andere Themen, die beim 20. Internationalen Literaturfestival Berlin (ilb) eine Rolle spielen sollen: Rassismus, toxische Männlichkeit, Bioökonomie. Natürlich tun sie das auch. Und doch steht und stand das ilb, das am Mittwoch mit einer Rede des peruanischen Nobelpreisträgers Mario Vargas Llosa im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie offiziell eröffnete, ganz im Zeichen der Pandemie.

Immerhin ist das ilb eines der ersten größeren Kulturevents, das nach dem Lockdown stattfindet, nicht nur in der Hauptstadt, sondern vielleicht sogar weltweit. So steht das Festival ganz im Bann der Hygienemaßnahmen und ihrer Umsetzung, was vielerlei bedeutet und je nach Spielstätte ganz unterschiedliche Auswirkungen hat. Und so hat man im dünn besuchten Kammermusiksaal nicht nur während der Eröffnungsrede das Gefühl, einer beliebigen Bundestagssitzung unter der Woche beizuwohnen. Leere Ränge, natürlich aufgrund der Beschränkungen, und den wenigen Zuhörenden sieht man jede Regung der Langeweile an. Immerhin ist Vargas Llosa eine imposante Erscheinung mit einer prägnanten Stimme und einem klassisch schönen Spanisch.

Dass sein Auftritt von jeher etwas Staatstragendes hat, liegt in der Natur der Sache. Eröffnungsrede eines Literaturfestivals, nachdem schon einige Grußworte diverser Kulturbürokraten inklusive des demonstrativ fröhlichen Festivalleiters Ulrich Schreibers gefallen waren – interessant würde sein, wie sich der anfängliche Coronaskeptiker Vargas Llosa hier zu der Sache äußern würde. Dazu später mehr.

Denn ja, dass das ilb überhaupt stattfindet, ist eine Leistung. Die Frankfurter Buchmesse, die per se einen größeren Zulauf hat, hat diese Woche ihren sozusagen „physischen Auftritt“ abgesagt und sich komplett ins Digitale verlegt; das immer noch recht opulente (um nicht „überladene“ zu sagen) ilb setzt in einem Verhältnis von 3:1 dagegen auf das Soziale, auf Publikum, auf körperliche Präsenz.

Dass dann in der Organisation nicht alles sofort funktioniert, lässt sich verzeihen. Es gibt gestaffelte Einlasszeiten, in Plastik verpackte Kopfhörer, komplizierte Bedingungen für jeden Einzelnen, allgemeine Maskenpflicht etc. Dass die „time slots“ dann gern eine Viertelstunde vor der tatsächlichen Einlasszeit angesetzt sind, geschenkt. Dass die individualisierte Behandlung den Moderator der Diskussion am Donnerstag ebenso warten lässt, nun ja. Dass der Rezensent aufgrund eines Tippfehlers zwei Tage lang unter falscher Identität, nämlich als „René Hartmann“, herumläuft, was soll’s.

Den Literaturnobelpreisträger sieht man dann am Mittwoch wie am Donnerstag mit Gehstock, aber nicht mit Maske. Eingeflogen wurde der 84-Jährige aus Madrid, aber weder er noch Daniel Kehlmann, der über Wien aus New York gekommen war, mussten in irgendeine Art von Quarantäne. Die Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk indes lieferte ein sympathisches und Einblicke bietendes Gespräch im Spielort im Wedding, auch dazu später mehr, ließ sich bei der Diskussionsrunde am Donnerstag mit Vargas Llosa, Kehlmann und anderen nicht mehr blicken.

Hinsichtlich des großen Themas war es also interessant, was Vargas Llosa zu sagen hatte, ansonsten hat auch einfaches Touristenspanisch (das mit den Übersetzungs-Funkgeräten hat am ersten Abend noch nicht ganz geklappt) ausgereicht, um seine Rede zu verstehen. „Die Literatur hat die Gabe, uns zu zeigen, dass etwas schiefläuft“, fand er. „Diktaturen sind immer tiefgreifend misstrauisch gegenüber der Literatur. Sie wissen, dass die Literatur eine Gefahr für sie darstellt.“

Literatur als Protestform also, als politisches Mittel gar, um ­gegen „die unzureichende Welt“ anzugehen. Das konnte man vor dem Hintergrund der Pandemie und der Maßnahmen so oder so lesen: nämlich abhängig davon, gegen welche Form der Gouvernanz, um mal ein wenig mit Machttheorie zu kommen, sie sich stellen muss.

Aufklärung ist eine nie endende Aufgabe dieser Literatur

Gemeinplätze waren insbesondere am Donnerstag beim Plenum „A Plea for Democracy and Culture“ so einige zu hören: Literatur ist nichts per se Demokratisches; es sind viele große Werke zum Beispiel der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts unter politisch schwierigsten Umständen entstanden; es kommt auf die Ambivalenzen an, die Literatur zu entfalten imstande sein sollte; Aufklärung ist eine nie endende Aufgabe dieser Literatur; und eine gute Schule der Empathie ist die Belletristik auch. Das ist alles zweifellos richtig.

Gleichzeitig betonten vor allem der indische Schriftsteller Pankaj Mishra und die Deutschbritin Sharon Doduo Otoo, dass „die Blase“ auch der kulturellen Welt Risse zeigt und das ungerechte System „dringend gestört werden“ muss, gerade für marginalisierte Menschen. Vielleicht ist eine Vielstimmigkeit tatsächlich eine Lösung für die Literatur, die ansonsten noch stärker mit Problemen der Irrelevanz zu kämpfen haben wird als ohnehin schon.

Daniel Kehlmann hingegen verlegte sich darauf, die Reisefreiheit zu verteidigen. Eine Rückkehr in die Beschaulichkeit der 1950er Jahre kann durchaus mal gefeiert werden, so Kehlmann. Eine Perspektive aber ist das nicht. Und darf das auch nicht sein. Auch vorher fiel einmal das Wort von einer „No-Touch-Future“, die mit Corona aufgezogen sei. Und die kann man ja auch wirklich nicht wollen.

Das ilb wird indes weiter seine Kreise ziehen, und zwar noch bis zum 19. September. Da der traditionelle Spielort, das Haus der Berliner Festspiele, umbaubedingt nicht zur Verfügung steht, streut sich das Festival über die Stadt. Gute Gelegenheit, tolle Stätten wie das ehemalige Krematorium Wedding, das jetzt etwas seltsam Silent Green heißt, kennenzulernen. Auch wenn Olga Tokarczuk ein Krematorium als Ort für einen polnischen Abend für „Berliner Galgenhumor“ hält.

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