piwik no script img

Wer auf dem Boden sitzt, blickt nicht herab

Beim Cornern vorm „Grünen Jäger“ treffen sich Menschen, die sich sonst nie begegnet wären

Von Philipp Steffens

Guck mal, ist das da drüben nicht der eine von Fettes Brot?“, fragt mich eine Freundin. Sie deutet unauffällig auf die andere Straßenseite, wo an einer Wand angelehnt tatsächlich Björn Warns sitzt. Er ist vertieft in ein Gespräch, während um ihn herum sich Leute laut zuprosten und ein Pfandflaschensammler seinen Einkaufswagen langsam durchs Gedränge schiebt.

Es ist eine typische Szene für einen lauen Sommerabend am „Grünen Jäger“, unmittelbar an der Tabakbörse. Als einer der wohl bekanntesten Plätze zum Cornern in Hamburg, ist das Stück Straße vor dem Kiosk ein Schmelztiegel der verschiedenen Schichten der Stadt. Die zentrale Lage und das günstige Bier zieht junge Studenten an, immer wieder laufen ein paar ältere Punks durch das Getümmel, die sich aber meist etwas abseits im angrenzenden Park niederlassen.

Als sich ein junger Mann in seinem sündhaft teuren Mercedes seinen Weg durch die Straße bahnt, machen viele nur langsam Platz. Es kommt das Gefühl auf, dass das hier keine Straße mehr für Autos ist. Stattdessen entsteht hier für ein paar Stunden die Utopie einer egalitären Gesellschaft, in der das Prollen mit Papas Auto keine Sympathie erzeugt. Das Cornern ist der Gegenentwurf zu den teuren Hamburger Bars, die sich mit Signature-Cocktails und gesalzenen Nüsschen mehr für Instagram-Follower als ihre realen Gäste interessieren. Es ist eine Alternative zum stundenlangen Anstehen vor Klubs. Ein Ausweg aus der Frage, welches Outfit den Türsteher überzeugt, aber gleichzeitig leger genug ist, um nicht das Gefühl zu bekommen, dass man sich kostümiert.

Cornern ist anti. Es richtet sich gegen den konsumorientierten Hedonismus, der sonst das Nachtleben so stark prägt. Es gibt keine Sitzplatzreservierung für die Bordsteinkante. Es gibt keinen Service, der dir Flaschen bringt. Und es gibt auch keinen DJ, der einen gemeinsamen Takt vorgibt. Die Kakophonie aus verschiedenen Lautsprechern, über die jeder seine eigene Musik abspielt, wird übertönt von den Gesprächen, die Leute führen. Cornern bedeutet, dass du dich selbst fragen musst, wie dein Tag oder Abend aussehen soll, denn niemand hat einen Programmplan.

Der kleinste Nenner

Im Grunde ist Cornern der kleinste gemeinsame Nenner einer diversen Gesellschaft. Paradoxerweise erzeugt das lockere Nebeneinandersitzen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Mit einem Bier in der Hand kann man mit jedem sprechen, egal woher die Person kommt und was sie macht. Wer auf dem Boden sitzt, kann nur schwerlich auf andere herabblicken, auch wenn sie völlig anderer Meinung sind. Cornern kann den eigenen Horizont erweitern. Oder in einer langen, halb ernsten Diskussion enden, welcher Song von Fettes Brot seinen Ruhm wirklich verdient hat und ob Bettina sich etwas anziehen sollte. Ein typischer Samstag am „Grünen Jäger“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen