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: Die oberen Zehntausend

Als das mit Corona losging“, erzählt der Freund, „wollte ich zur Bank, fünfzig Euro abheben, aber ging nicht: Bargeld war alle. Da sind die ganzen Reichen in Zehlendorf zur Bank gerannt, um Bares zu bunkern.“

Und die Reichen, weiß der Freund, holten richtig viel Geld ab. Nicht nur fünfzig Euro. Während wir in Richtung seines Studentenwohnheims wandern und eine pompöse Villa nach der anderen passieren, benennt der Freund jedes Auto, das in den Garagen solcher Villen parkt, inklusive Preisangabe.

„Mhhmmh“, mache ich und betrachte eine ältere Frau, die Einkäufe aus dem Kofferraum eines Twingos hievt. „Hier sind alle seit Generationen reich“, berichtet der Freund. „Solche Häuser erbt man. Die verdient man nicht. In Zehlendorf“, sagt der Freund, „wohnt das Geld. Von Corona bekommen die hier nichts mit.“ Ich denke darüber nach, in welchem Zusammenhang Reichsein und Corona stehen. Der Freund erzählt von diesem und jenem Prominenten, vielleicht auch von Politikern (ist das nicht mittlerweile ohnehin das Gleiche?), der in diesem oder jenem hochherrschaftlichen Haus im Villenviertel oder am Schlachtensee lebt oder gelebt hat. „Udo Walz“, weiß der Freund, „hat in der Gegend auch ein Haus, aber nicht hier: seins liegt am Wannsee, noch bessere Lage, mit direktem Zugang zum See.“

„Woher weißt du das?“, frage ich den Freund und stelle ihn mir vor, wie er, mit einem Fernglas bewaffnet, die Lebensumstände der oberen Zehntausend auskundschaftet. Der Freund hat eine Schwäche für Prominente und Reiche. Hin und wieder erreichen mich mysteriöse Whatsapp-Nachrichten: „Marteria am Maybachufer“ oder „Toni Garrn Schwartz­kopffstraße“. Ich frage mich in solchen Momenten, was der Freund denkt, dass ich mit einer solchen Info anfange: Schuhe anziehen und lossprinten? Der Freund empfiehlt „die zweitbeste Doku, die er je gesehen hat“: Generation Wealth. „Die beste Doku“, informiert der Freund, „ist das Kapital im 21. Jahrhundert.“ Der Freund hört nie auf, mich mit Einsichten in den Reichtum mir fremder Leute zu bombardieren: „Eurojackpot“, schreibt er, „33 Millionen Euro gehen nach Süditalien. Anfang Mai hat ein 25-jähriger Bayer 90 Millionen gewonnen.“

Ich frage: „Was soll man mit so viel Geld?“ Der Freund erklärt: „Wohnungen in Brooklyn und im Quartier Latin kaufen. Vielleicht noch ein Schloss in Frankreich.“ Nach kurzem Nachdenken fügt er hinzu: „Schlafen“. Ich verstehe.

Der Freund schickt einen Artikel in französischer Sprache, von den mo­natlichen Gehältern von Regierungsmitgliedern ist die Rede: „15.140 Euro im ­Monat machen Spaß“, meint der Freund. Hin und wieder schickt er eine Pfingstrose.

Tags drauf abermals Lottogewinn: „Der kauft sich wahrscheinlich ganz Thüringen.“ „Wieso liest du so ein Zeug?“, frage ich den Freund. Als Antwort spricht Sara Nuru „über das, was sie im Leben wirklich glücklich macht“.

„Ihr Leben vor Heidi Klum“, erörtert der Freund.

Der Freund hat eine Leidenschaft für Freikarten, sitzt freiwillig im Publikum von „The Voice“, „Sing meinen Song“, „X-Factor Italia“. „Ist gratis“, erklärt er meinen Augenbrauen. Der Freund weiß stets, wo es was wann wie umsonst gibt.

Der Freund feiert seine Geburtstage im Borchardt. Bereits Monate zuvor freut er sich aufs Promi-Spähen. Gab halt diesmal leider keine. „Ich glaube“, bedeutet der Freund in einem vergeblichen Versuch, dem Abend ein wenig Glanz und Glorie abzugewinnen, „der da ist FDP-Politiker.“ Ich suche in meiner Tasche nach einer Halskrause und schweige. „Das Dümmste an der Sache ist ja“, findet der Freund, „dass es gerade nichts gibt, auf das man sich freuen kann.“

Der Freund, denke ich, trinkt keinen Eierlikör. Marielle Kreienborg