wortwechsel: So einfach ist das nicht, liebe Kinder …
Enttäuscht verließen Greta Thunberg und Luisa Neubauer die Sprechstunde bei Frau Dr. Merkel. Fridays for Future hat kein tragfähiges Konzept? Die Politik der EU leider auch nicht
„Greta Thunberg bei der Kanzlerin: Zwei Frauen, die sich ähneln“, taz vom 21. 8. 20
Sie sind nicht naiv
Frau Herrmann schreibt in ihrem Kommentar, dass die Klimaaktivistin Greta Thunberg keine alternativen Konzepte zum bestehenden Wirtschaftssystem nennen könne und somit ungewollt das bisherige System unterstütze. Was soll denn eine 17-jährige Schülerin an Alternativen anbieten? Es ging doch wohl bei dem Besuch im Kanzleramt in erster Linie darum, die Klimadebatte wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit und der Politik zu rücken. Frau Herrmann argumentiert wie die konservativen bis rechten Kritiker*innen der FFF-Bewegung, die den Aktivisten Ahnungslosigkeit und Naivität vorwerfen. Damit fügt sie der Bewegung ungewollt Schaden zu.
Eva Lange-von Au, Wuppertal
Die Wirtschaftslobby
Das „Zurück auf die Bäume“-Argument haben wir doch eigentlich längst überwunden – Frau Herrmann jedoch nicht, wenn sie allen Ernstes fragt, welche Schritte Thunberg für eine klimaneutrale Wirtschaft im Sinn habe: „Verbot aller Flugzeuge? Aller privaten Autos?“ Wie sie auf die Idee kommt, dies sei allen Ernstes eine Forderung Thunbergs (oder von Fridays for Future), bleibt unklar. Es fehlt ihr also ein „tragfähiges Konzept“ für den Weg in eine klimaneutrale Wirtschaft. Daher ist natürlich auch den Politiker*innen absolut kein Vorwurf zu machen, wenn sie die Sache mit dem Pariser Klimaabkommen nicht gewuppt kriegen. Logisch: Es ist einfach eine zu komplexe Herausforderung, mit der wir es hier zu tun haben! Das hat jetzt auch absolut gar nichts mit dem Einfluss der Wirtschaftslobby zu tun. Die Welt ist einfach viel zu kompliziert! Die logische Schlussfolgerung nach dieser Argumentation wäre: Wenn wir uns nicht sicher sind, ob alternative Wirtschaftssysteme funktionieren – Konzepte gibt es genug –, dann machen wir einfach weiter mit dem System, von dem wir bereits seit Jahrzehnten definitiv wissen, dass es nicht funktioniert. Da können wir dann gleich alle kollektiv den Kopf in den Sand stecken. Last but not least: Auch warum und wie Thunberg „ungewollt die bisherige Wirtschaftsordnung stabilisiert“, bleibt Ulrike Herrmanns Geheimnis.
Nora Oehmichen, Asperg
Schonungslos und wahr
„Greta Thunberg bei der Kanzlerin“,
taz vom 22. 8. 20
Sich einzugestehen, dass wir angesichts eines ökonomischen Systems, das unsere Lebensgrundlagen in einem atemberaubenden Tempo zerstört, ein neues System brauchen, wie Greta Thunberg und ihre Mitstreiter*innen es tun, hat nichts mit Maskerade zu tun, sondern mit schonungsloser Wahrhaftigkeit! Im Gegensatz zur Kanzlerin und zur Kommentatorin verspricht Greta Thunberg niemandem, dass unser Konsum, unsere Mobilität, unser Luxus (inklusive des Luxus unserer Superreichen) in diesem Maße beibehalten wird, wenn climate justice von einer jungen Generation als Politikkonzept realisiert wird. Greta scheut keinen Konflikt mit hohen Wirtschaftsbossen! Eine CO2-Bepreisung mit Rückverteilung an alle Bürger*innen (96 CHF/87,50 Euro), wie es die Schweiz schon seit Jahren vormacht, ist ebenfalls geeignet, um Klimaschutz in der breiten Bevölkerung positiv zu verankern. Zu übertragen ist dieses Modell auf weitere Rohstoffe. Endlich würde sich klimaschonendes Verhalten rechnen! Wer viel Natur verbraucht, müsste entsprechend draufzahlen. Allerdings würden wir uns zu einer Gesellschaft entwickeln, in der sich die Prestigewirkung von Konsum, Einkommenshöhe und beruflicher Position nach und nach abschwächen würde. Aber Hand aufs Herz – wäre das so schlimm?
Gudula Frieling, Dortmund
Der Bestandsschutz
Was man FFF wirklich vorwerfen könnte, ist, dass sie Appelle an politisch Verantwortliche richten, die gar keine wirksamen Änderungen wollen, weil sie allzu sehr mit den Interessen jener verflochten sind, die Veränderungen in Richtung Klimaneutralität scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Der Bestandsschutz für die deutsche Automobilindustrie war Frau Merkel in der Vergangenheit allemal wichtiger, als wirksame Strukturverbesserungen zu schaffen.
Raimund Schorn-Lichtenthäler, Datteln
Kleine Schritte
Müssen Jahr für Jahr zu hohe CO2-Emissionen in Kauf genommen werden, die Erdtemperatur aufgeheizt und die prognostizierten Folgen erlitten werden, weil das Zukunftskonzept fehlt? Die Merit-Order berücksichtigt Stromanbieter nach Wirtschaftlichkeit. Ohne Verträge zu brechen, müssen den Angebotspreisen nur die Schadstoffkosten zugerechnet werden und schon sind die Weichen zu Nachhaltigkeit gestellt. Die Zukunft ist unbekannt. Lasst uns kleine Schritte ausprobieren. Klaus Warzecha, Wiesbaden
Seit mehr als 30 Jahren …
Seit mehr als 30 Jahren liegen ausreichend Konzepte auf dem Tisch der Politik. Am Beispiel der Umsetzung der CO2-Bepreisung sei aufgezeigt, was eine frühzeitige wirksame Ausgestaltung hätte bewirken können und welch großes Potenzial zur Reduktion von Treibhausgasen in diesem ökonomisch tragfähigen Konzept noch immer steckt. Die bereits seit den 1920er Jahren in ihrer Wirksamkeit gut untersuchte Pigou-Steuer war Gegenstand eines Entwurfs der EU-Kommission im Jahre 1991. Der Entwurf sah eine europäisch kombinierte Energie- und CO2-Steuer mit anfänglich drei US Dollar (1993) je Barrel Öl und einen Anstieg um einen US Dollar je Barrel und Jahr. Hätte man sich 1993 konsequent für diesen Weg entschieden, wären wir heute umgerechnet bei circa 80 bis 100 Euro pro Tonne CO2. Vielen Planungen in neue Kohlestromanlagen hätte man damals bereits die ökonomische Grundlage nehmen können und uns allen bliebe aufgrund des größeren „Restbudgets“ mehr Spielraum für die notwendige sozialökologische Transformation.
Jörg Lange, CO2-Abgabe e. V., Freiburg
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