Island und zwei Idealistent

Im isländischen Spielfilm „Tryggð“ nimmt eine Frau drei Geflüchtete in ihrem Haus auf. Als die ein eigenes Leben wagen, entpuppt sie sich als kleinlich und autoritär. In die Kinos hat „Tryggð“ der kleine Filmverleih „Nordlichter Film“ aus Lehrte bei Hannover gebracht

Gut gemeint ist nicht gleich gut gemacht: Zunehmend kommt es zwischen Gastgeberin Gisella und der Geflüchteten Marisol zu Konflikten Foto: Filmstill: Nordlichter Film

Von Wilfried Hippen

Gisella will die Welt verbessern. Ohne lange zu zögern, nimmt sie Marisol aus Kolumbien, Abeda aus Uganda und deren Tochter Luna in ihr großes Haus auf, nachdem sie gesehen hatte, wie armselig diese für eine Wucher-Miete in einer Baracke am Hafen wohnen. Und eine Zeitlang wird in diesem Haushalt auch das Hohelied der Frauensolidarität gesungen. Gisella kümmert sich intensiv um die etwa zwölfjährige Luna, bringt sie zur Schule und macht ihr Geschenke. Deren Mutter kann sich dagegen kaum um sie kümmern, weil sie viel putzen muss, um das Geld für die Miete zu verdienen. Denn ganz so uneigennützig war Gisellas Angebot an die Frauen nicht: Weil sie gerade ihre Arbeit als Journalistin gekündigt hat, braucht sie das Geld. Und es mag in Island üblich sein, eine Anzahlung auf die Untermiete zu zahlen. Den beiden geflüchteten Frauen aber fällt es schwer, sie aufzubringen.

Vor diesem Hintergrund entwickelt sich allmählich ein Machtkampf zwischen den drei Frauen. Zuerst ringen sie um die Zuneigung der Tochter, dann streiten sie darüber, ob Marisol und Abeda nun Mieterinnen mit eigenen Rechten oder Gäste sind, die auf das Wohlwollen ihrer Gastgeberin angewiesen sind. Letztere wiederum sonnt sich lange in ihrer Rolle als Wohltäterin. Als ihre Mitbewohnerinnen aber wagen, ihr eigenes Leben zu leben – und etwa Männerbesuche über Nacht einfordern – wird sie zunehmend kleinlich und autoritär.

Im isländischen Spielfilm „Tryggð – The Deposit“ wird dieser Konflikt als ein Kammerspiel inszeniert, das nur aus der Perspektive von Gisella erzählt wird. So ist den ZuschauerInnen die Protagonistin von Anfang an sehr nah. Man kann kaum anders, als sich mit ihr zu identifizieren, und wenn sie sich dann langsam von einer Gutmenschin in eine Frau verwandelt, die rücksichtslos ihre Privilegien verteidigt und schließlich zur Denunziantin wird, muss sich jede und jeder die beunruhigende Frage stellen, was sie oder er in dieser Situation getan hätte.

„Tryggð“ ist der Debütfilm der isländischen Filmemacherin Ásthildur Kjartansdóttir. Es gelingt ihr, die drei Frauen und das junge Mädchen so lebendig auf der Leinwand zu zeigen, dass der Film erstaunlich spannend ist, obwohl in ihm im Grunde nur alltägliche Reibereien durchgespielt werden. Und die Geschichte ist zugleich so aktuell und universell, dass sie statt in Island genauso auch in Italien, England oder Deutschland spielen könnte.

Auf der anderen Seite ist „Tryggð“ so intim und unspektakulär, dass er auf internationalen Filmfestivals keine großen Wellen geschlagen hat. Entdeckt hat ihn dann im vergangenen Jahr Daniel Karg, der in Lehrte bei Hannover den Filmverleih „Nordlichter Film – Neues skandinavisches Kino“ betreibt, und „Tryggð – The Deposit“ in dieser Woche in Deutschland in die Kinos bringt.

Dabei weiß nicht einmal Karg selbst genau, wie der Filmtitel richtig ausgesprochen wird – und auch der englische Nachtitel hilft da wenig. Ein deutscher Titel würde sicher ein paar Zuschauer*innen mehr in die Kinos locken, doch Karg will keine falsche Erwartungen wecken. Sein Argument: Bei einem deutschen Titel würde das Publikum auch einen deutsch synchronisierten Film erwarten – und „Tryggð“ bringt er, wie alle Filme in seinem Programm, nur in der Originalfassung mit Untertiteln heraus.

Karg versteht sich da als „Fundamentalist“ des Kinos. Aber es gibt auch einen pragmatischen Grund dafür, dass seine Filme nicht in verdeutschten Fassungen in die Kinos kommen: die 20.000 bis 30.000 Euro für die Synchronisation kann und will er sich nicht leisten.

Denn sein „Nordlichter Film“ ist ein sehr kleiner, noch junger Filmverleih, den Karg alleine betreibt und von dem er auch nicht leben kann. Sein Geld verdient er als Mitarbeiter bei den Kinos am Raschplatz in Hannover.

Schon als 16-Jähriger hat Daniel Karg als ehrenamtlicher Mitarbeiter im einzigen Kino seiner Heimatstadt Lehrte seine Liebe zum Kino entdeckt. Nach einer Lehre auf einem Bauernhof und seiner Studienzeit entschied er sich dann dafür, weiter für seine Leidenschaft zu arbeiten. In Berlin war er ein Jahr lang beim Filmverleih Salzgeber für die Kundenbetreuung zuständig. Als er dann zurück nach Lehrte kam, machte er sich selbstständig – „mit 20 Jahren Kinoerfahrung“, wie er selbst sagt.

Karg schrieb Texte für die niedersächsischen Schulfilmwochen, organisierte Open-Air-Kinovorstellungen und kümmert sich auch heute noch um Arthousefilmprogramme in 20 Kinos in ganz Deutschland, für die er die Filme aussucht, Texte verfasst und Flyer herstellen lässt.

Die Geschichte ist so aktuell und universell, dass sie genauso auch in Italien, England oder Deutschland spielen könnte

Seine Nische als Filmverleiher fand er als er merkte, dass auf der Berlinale und den Nordischen Filmtagen in Lübeck viele gute Filme aus Skandinavien gezeigt wurden, die dann nie in die deutschen Kinos kamen. Im Jahr 2015 erwarb er die Lizenzen von fünf von diesen für Deutschland noch unentdeckten Filmen, schnürte sie zu einem Paket zusammen und bot sie als skandinavisches Filmfestival Programm- und Kommunalkinos an.

Karg verfasste eine Broschüre und kümmerte sich um die gesamte Organisation, leistete also die ganze Vorarbeit. Die einzelnen Filme brachte er als DVDs, BluRays und auf einer Streaming-Plattform als Videos on Demand heraus. 27 Filme aus Dänemark, Finnland, Norwegen, Schweden und Island umfasst sein Katalog bereits. 2019 allerdings organisierte Karg sein letztes Festival – weil er das Gefühl hatte, seine Filme in Fünferpacks unter Wert zu verkaufen. Von diesem Jahr an bringt er seine Filme einzeln in die Kinos.

Dort sollte auch „Tryggð“ eigentlich schon im April zu sehen sein. Nun aber ist er mitten in eine Schwemme von neu gestarteten Filmen geraten, sodass nur wenige Kinos Platz haben werden, ihn zum heutigen Kinostart oder in den kommenden Wochen zu zeigen.

Doch Daniel Karg rechnet langfristig. Anders als bei den großen Filmverleihern entscheidet sich für ihn nicht schon am ersten Wochenende nach dem Kinostart, ob ein Film ein Flop oder ein Erfolg wird. Er ist zufrieden, wenn ein paar Kinos „Tryggð“ in den kommenden Monaten zeigen. Dann wird er ihn als Video on Demand, DVD und BluRay vermarkten. Und wenn er dabei in die schwarzen Zahlen kommt, ist er schon zufrieden – Daniel Karg ist eher ein Idealist des Kinos als ein gewiefter Geschäftsmann.

Tryggð – The Deposit“: Island 2019, Regie: Ásthildur Kjartansdóttir, mit Elma Lísa Gunnarsdóttir, Enid Mbabazi, u. a., 89 Min., Omu