Und täglich warten sie auf den Zug

Postsowjetischer Existenzialismus: In „Nulluhrzug“ entwirft der russische Autor Juri Buida ein Szenario, das an die Dystopien Andrei Platonows erinnert

Juri Buida: „Nulluhrzug“. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungart. Aufbau Verlag, Berlin 2020, 142 Seiten, 18 Euro

Von Katharina Granzin

Es ist ein Warten-auf-Godot-ähnliches Szenario, das Juri Buida in seinem Roman „Nulluhrzug“ entwirft, der im russischen Original 1997 erschien. Eine kleine Bahnstation im Nirgendwo ist sein Handlungsort, gebaut und betrieben einzig zu dem Zweck, den „Nuller“ genannten Zug abzufertigen beziehungsweise durchzulassen, der die Station einmal täglich passiert, beladen mit einer unbekannten Fracht und auf dem Weg zu einem unbekannten Ziel.

Nur wenige Menschen leben an der Station, auch sie ist nur hier installiert, um dem „Nuller“ zu dienen: der Stationsvorsteher Mischa Landau mit seiner schönen Frau Esther, genannt Fira; das Ehepaar Wassja und Gussja sowie der Eisenbahner Iwan Ardabjew, genannt Don Domino. Er ist die Hauptfigur des kleinen, atmosphärisch dichten Romans.

Ein „Iwan“ steckt in diesem Protagonisten also ebenso wie ein „Don“ – er hat den Spitznamen unter anderem seines irgendwie spanischen Aussehens wegen –, ein russischer Jedermann ebenso wie ein Don Quichotte. Und ebenso wie jener traurige Held, der gegen Windmühlen kämpfte und sich nach seiner Dulcinea verzehrte, hat Don Domino es mit einer gleichgültigen Maschine einerseits und einer schwärmerischen Liebe andererseits zu tun: dem „Nuller“, dessen Ziel und Inhalt niemand kennen darf, und dem Verlangen nach Fira, die ja aber schon mit einem anderen verheiratet ist.

Diese Grundkonstellation wird aus dem Rückblick erzählt, denn der Roman beginnt damit, dass Fira, inzwischen eine alte, hinfällige Frau, aus der Bahnstation auszieht. Zurück bleiben nur Don Domino und die närrische alte Gussja; alle anderen, auch Kinder und zeitweise vorhandene Geliebte, sind ihrer Wege gezogen, gestorben oder verschwunden beim Versuch, herauszufinden, was das Endziel des „Nullers“ ist.

Zweifellos ist Juri Buidas Schreiben inspiriert von den dystopistischen Sozialismus­allegorien des Andrei Platonow. Ebenso existenziell ist die suchende Leere im Inneren seiner Protagonisten, ebenso auf fast absurde Weise verloren wirkt ihre Position in der Welt. Die Bahnstation und ihre Umgebung scheinen weniger real existierende Orte zu sein als metaphorische Zuschreibungen, desolate Seelenlandschaften für das ziellos vor sich hin lebende Romanpersonal.

Der Ehemann ist unglücklich

Als explizit unglücklich beschrieben wird allerdings nur eine Person, Firas Ehemann Michail, der zerrissen wird von seinem Unwissen über Zweck und Ziel des „Nullers“. Doch auch Don Domino, der als großer Liebhaber beschrieben wird, kann mit allen fleischlichen Genüssen nicht seine unerfüllte Sehnsucht stillen.

Nachdem ihm irgendwann tatsächlich auch der Körper der begehrten Fira zuteil geworden ist, wird ihm dieses Glück wieder genommen. Geschändet und misshandelt, nachdem Fira festgenommen worden ist, hat sie ihren Zauber für ihn eingebüßt: „Nun war es ein Körper wie jeder andere, aus undurchsichtigem Fleisch, wie bei jedem anderen, nicht schlechter als andere.“ Auch diese Besessenheit vom Nicht-Glücklichwerden durch Sex und ein recht fragwürdiges Frauenbild erinnert im Übrigen an Platonow.

Trotzdem ist Buidas Prosa mehr als literarisches Epigonentum und rätselhaft in ganz eigener Weise. „Nulluhrzug“ lässt sich, wenn man will, durchaus lesen als nachgereichte Sowjetallegorie, als bittere Meditation über ein so allgegenwärtiges wie undurchschaubares Machtsystem, in dem der einzelne Mensch nur so viel zählt, wie seine Funktion für die Gesellschaft bedeutet.

Aber das ist nur eine Möglichkeit, diesen Roman zu deuten. Der „Nuller“, der verplombt ins Unbekannte rast, kann ebenso gut als überzeitliche Zumutung gesehen werden, an der die Menschen sich immer wieder und auf ewig abarbeiten werden.