berliner szenen
: Früchte, Launen und Magie

Als der 171er immer noch keine Anstalten machte, seine Fahrt fortzusetzen, wurde ich unruhig. Ich dachte über das vorgetäuschte Losfahren nach: den Motor laufen lassen, aber minutenlang stehen bleiben. Wie Bauarbeiter, die ihren Bagger laufen lassen während der Mittagspause. Die Kehrmaschine, die im Sommer nachts um 12 durch die im Görlitzer Park sitzende Menge pflügte und mehr Krach machte als alle Jugend vorher.

Dann fuhr der Bus wieder an, bog nach rechts ab, dann war meine Haltestelle erreicht. Ich stieg hinter einer Deutsch-Asiatin aus und durfte sie unfreiwillig durch unser Viertel verfolgen. Sie trug hochgezogene Strümpfe über einer warmen Strumpfhose unter einem schwarzen Rock, über den ein schwerer Männermantel wie aus einem Theaterfundus fiel. Ihr Haar war schallplattenschwarz. Sie hielt sich ihr Endgerät ans Ohr und redete in einem fort. Über den Tonmann, der kurzfristig ausgefallen war. Darüber, dass die Pros manchmal auch nur so tun. Sie reden schlau. Aber dann kommt meist nichts. „Als das zweite Kind unterwegs war …“, sagte eine Frau mit Kinderwagen, die links vorbeizog. Der Kinderwagen war still, das Kind schien zu schlafen, völlig unbekümmert von den Kommunikationsproblemen der Erwachsenen. Schwanger sein, ein nahezu unentrinnbarer Zustand, dachte ich. Ich überlegte, das Tagebuch einer Schwangeren zu schreiben: „2. Mai. Tag 112. Immer noch schwanger. 7. Mai. Tag 117. Am Morgen ganz schön das Klo angebrüllt.“ Ich dachte an endlose Beschreibungen eines sich wölbenden Bauchs, der von innen an die antiken Kuppeln des Pantheons in Rom, oder besser: an die Grabeskirche in Jerusalem erinnern mochte. Ich dachte an Launen und Magie, an exotische Früchte, Hungerflashs, an allmorgendliche Übelkeit. Aber natürlich hatte ich gar keine Ahnung. René Hamann