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Skeptischer Chronist

Bilder aus der DDR: Als erstes Haus im Westen zeigt das Sprengel-Museum in Hannover eine Retrospektive des Fotografen Christian Borchert

Keine offene Systemkritik: Borcherts „Schlossruine am Theaterplatz“ aus dem Jahr 1980 Foto: Fotos (4): SLUB Dresden/Deutsche Fotothek

Von Bettina Maria Brosowsky

Vielleicht ist es dieses eine Bild: Menschen hinter den Fensterscheiben in einer Straßenbahn. Spontan lässt es an ein ganz ähnliches Motiv – Menschen im Bus – des US-amerikanisch-schweizerischen Fotografen Robert Frank denken, das die späteren Ausgaben seines Fotobandes „The Americans“ ziert. Das Vorwort zum Buch verfasste Jack Kerouac, verortete Franks Bildwelt damit in die US-amerikanischen 1950er-Jahre und die selbstdeklarierte Subkultur der Beatniks.

Derart lässig ironische Leichtigkeit fehlt natürlich der Fotografie von Christian Borchert, denn er nahm sie 1981 in Erfurt auf. Sie scheint jedoch die Verfasstheit seiner Menschenbildnisse, auch seiner inszenierten Porträtserien, wie im Brennglas zu bündeln: Man meint, den Abgebildeten diese melancholisch skeptische Verschlossenheit zuschreiben zu dürfen, die wohl nur ein hermetisches System wie das der DDR auszuprägen vermochte.

Christian Borchert, dem Langzeitchronisten dieser anderen deutschen Gesellschaft, 1942 in Dresden geboren, 2000 einem Badeunfall bei Berlin erlegen, widmet das Sprengel-Museum als erstes „West-Museum“ überhaupt eine Retrospektive. Es zeigt aus Borcherts archivarisch perfekt hinterlassenem Lebenswerk von allein über 230.000 Schwarz-Weiß-Negativen, 20.000 Arbeits- und gut 4.000 hochwertigen Ausstellungsabzügen fünf thematische Komplexe sowie die titelgebende Arbeit zu seiner Geburtsstadt aus den 1990er-Jahren, „Tektonik der Erinnerung“.

Leise Töne, behutsamer Bildzugriff: „Familie S. (BMSR-Meister, Rechnungslegerin, Dresden“ (oben), „Elbfront ‚Ballhaus Watzke‘ in Pischen“ aus dem Projekt „Tektonik der Erinnerung“ (Mitte) und „Elke Erb“

Die verspätete Rezeption Borcherts, zwanzig Jahre nach seinem Tod, ist kein Ergebnis westlicher Arroganz, stellt Inka Schube klar, zuständige Fotokuratorin am Sprengel-Museum. Schube ist selbst aus der DDR, sie weiß um die dort an Universitäten und Institutionen marginalisierte Kunstgeschichte. Das hatte zur Folge, dass die zeitgenössische Kunstproduktion wenig wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfuhr, durchaus wohl mit positiven Effekten, aber auch ein Werk wie das von Borchert unbeachtet bleiben und in Vergessenheit geraten konnte.

Nun war es der Kunsthistoriker Bertram Kaschek, der mit frischem Zugriff während vierjähriger Forschung am Kupferstichkabinett Dresden Borcherts Nachlass erschließen, die Ausstellung sowie eine umfangreiche biografische Publikation erarbeiten konnte.

Nicht nur Borcherts fotografische Praxis, auch sein Lebenslauf spiegelt die Verwerfungen einer Existenz in der DDR wider. Da wäre etwa seine frühe Begeisterung fürs Fotografieren und Filmen seiner kriegszerstörten Heimatstadt, aber weder eine Ausbildung als Filmfotograf noch ein Fachschulstudium war ihm möglich. Stattdessen lernte er Kopierwerktechnik für die Filmproduktion, somit handwerkliche und materialtechnische Kenntnisse, die er stetig perfektionierte. 1967 legte er eine Facharbeiterprüfung als Fotograf ab und absolvierte, bereits als Bildjournalist in Berlin angestellt, ab 1971 ein Fernstudium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) in Leipzig.

Zu seinen frühen offiziellen Arbeiten zählten ab 1965 situative Porträts von Soldaten der Nationalen Volksarmee, die wegen ihrer „intimen Momente“ gelobt wurden und ihren Weg in einen Bildband zum 20-jährigen Jubiläum der DDR fanden. Borchert isolierte seine Protagonisten mit langer Brennweite aus ihrem Kontext, gab so der anonymen Armee individuelle Physiognomien.

Für seine Abschlussarbeit an der HGB wählte er 1974 wieder das Format des Porträts, nun Werktätiger in Ungarn. Er stellte sich bewusst in die gesellschaftsdokumentarische Tradition des Rheinländers August Sander, den auch die DDR als Vorläufer einer sozialistischen Bildpolitik für sich reklamieren konnte. In seinen Ganzporträts kommt er dem Vorbild verblüffend nah, für großformatige Gesichter griff er zur kurzen Brennweite, verlieh ihnen so Züge dramatischer Inszenierung – eine Bildsprache, nun weniger der Doktrin eines „sozialistischen Realismus“ verpflichtet. Ab 1976 arbeitete Borchert freiberuflich, seine Form der Distanz zum System, Familien-, Künstler und Literatenporträts wurden ein Arbeitsschwerpunkt.

Zwischen 1977 bis 1985 verfolgte Borchert den Wiederaufbau der Semperoper in Dresden. Zum Ende der DDR analysierte er seine Geburtsstadt aber auch anhand von 50.000 Metern Dokumentarfilmen, aus der Kaiserzeit bis zur Zerstörung im Februar 1945, denen er 500 Einzelbilder für eine Ausstellung entnahm. Dem Mythos der unschuldigen Kunststadt stellte er eine vom Nationalsozialismus durchdrungene, militarisierte Stadtgesellschaft entgegen.

Christian Borchert war kein offener Systemkritiker, als Fotograf ein Verfechter der leisen Töne und des behutsamen Bildzugriffs. Seine Künstlerfreundschaften reichten von Angepassten bis zu Ausreisewilligen. Er konnte wiederholt im Westen ausstellen, für eine Dokumentation des bildhauerischen Werkes Georg Kolbes nach Westberlin und in die Bundesrepublik reisen. Gleichwohl hatte er sich 1975 der Stasi als IM „Redakteur“ verpflichtet, mit der Ausbürgerung Biermanns wurde er 1976 wegen seiner „labilen“ politischen Haltung dann selbst Objekt „operativer Personenkontrolle“, Aktenzeichen „Fotograf“.

So verwundert es nicht, dass er Mauerfall, Wiedervereinigung und ungewisser Zukunft ambivalent begegnete. Seine Fotografie machte aber einen entscheidenden Sprung: Sie wurde leichtfüßig, schien nur noch den Konditionen ihres eigenen Metiers verpflichtet. Borchert fand in Rom oder Griechenland zu mediterraner „Street Photography“ und in Dresden zu urban abstrakten Nachtbildern: Fotografie, die sich nun nicht mehr einem Vorwurf westlich dekadenten „Formalismus“ auszusetzen brauchte.

Christian Borchert: Tektonik der Erinnerung“: bis 20. 9., Hannover, Sprengel-Museum

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