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Jenseits des Bilder-Spektakels

Coronabedingt muss auch das hannoversche Lumix Festival für jungen Bildjournalismus ins Internet umziehen. Dort nutzt es die Chance, sich sowohl gewohnt solide sowie digital neu zu präsentieren

Schmerzhafter Fotoessay: Vivian Rutsch nähert sich dem ungeklärten Todesfall ihrer Schwester und dem zu vermutenden sexuellen Missbrauch in ihrer Familie Foto: Sadia Barlow 2018

VonFrank Keil

Wer schon mal beim Fotofestival Lumix im glaslastigen Gebäude am Expo Plaza 2 in Hannover war, erinnert sich sofort: Man steht im Foyer, schaut in die Höhe und sieht, wie sich die Menschen auf den Emporen dicht an dicht an den Ausstellungstafeln von Fotostrecke zu Fotostrecke schieben. Sie schauen, reden miteinander, zeigen, was sie Sehenswertes entdeckt haben. „Uns war sofort klar, wenn man da Auflagen bekommt, funktioniert das nicht mehr“, erzählt Karen Fromm, Professorin für Fotojournalismus und Dokumentarfotografie an der Hochschule Hannover und Leiterin des Festivals. Im März noch hätten sie und ihr Team noch kurz gedacht: Ach, das wird schon. Es wurde aber natürlich nichts, nun findet das Lumix-Festival im Internet statt, ausgedehnt auf zehn Tage, noch bis zum kommenden Sonntag kann man die Fotos dort sehen.

Dabei ist das Herzstück geblieben: der klassische Foto-Wettbewerb „Bildstrecken“, bei dem dieses Jahr 50 Arbeiten von jungen FotografInnen zu sehen sind, ausgewählt aus immerhin rund 1.000 Einsendungen. Und während man sich durch die entsprechenden Seiten klickt, braucht es nicht lange, um auf echte visuelle Kostbarkeiten zu stoßen. Jeremy Suyker etwa hat für seine Strecke „Come as you are“ den diversen Rugby-Club „Berliner Bruisers“ begleitet. Tadas Kazakevicius nimmt uns mit „Soon to be gone“ auf eine Reise in die litauische Provinz mit, wo sich die Magie des einfachen Landlebens und der Preis des Abgehängtseins von der Moderne die Waage zu halten scheinen. Vivian Rutsch wiederum versucht sich in ihrem schmerzhaften Fotoessay „Still here“ dem ungeklärten Todesfall ihrer Schwester und dem zu vermutenden sexuellen Missbrauch in ihrer Familie zu nähern: Die Hölle, das sind zuweilen die Eigenen.

Lässt sich dabei generell eine Tendenz beim aufstrebenden Nachwuchs benennen? „Es geht uns ja nicht darum, einen Fotojournalismus zu feiern, der sich in den Live-Magazinen des 20. Jahrhunderts herausgebildet hat, sondern wir schauen, wohin er sich weiterentwickelt“, sagt Fromm. „Von daher wurden viele Arbeiten nominiert, die weniger denken, ich mache eine Strecke aus zwanzig starken Bildern, die dann im Magazin funktionieren und die ich anbiete in der Hoffnung, eine Redaktion nimmt die und jemand anderes schreibt den Text dazu.“ Stattdessen werde von vornherein über unterschiedliche Publikationswege nachgedacht: „Da wird parallel eine interaktive Website umgesetzt, da gibt es ein Fotobuch, das dazu existiert, da wird schon stark auf das Medium Ausstellung hin gedacht.“

Entsprechend finden sich in der zweiten Sektion „Digital Storytelling“ quasi als Vorbild-Angebot 18 bereits veröffentlichte Arbeiten, die zeigen, wie neue Erzähl- und Präsentationsformen auf ihre Weise Einzug in die klassische Magazinlandschaft gehalten haben: etwa die Multi-Media-Strecke „Verdingt und Vergessen“ von Corinna Guthknecht und Josef Wirnshofer, die sich dem Schicksal der Schweizer Verding-Kinder widmet – Kinder, die staatlicherseits ihren Eltern entrissen, auf Bergbauernhöfen verdingt wurden und bis heute unter ihrer Ausgrenzung leiden.

Im interaktiven Video „Coal­scapes“ kann man mittels steuerbarer 360-Grad-Kamera im Rheinischen Braunkohlerevier, aber auch im besetzten Hambacher Forst unterwegs sein

Oder das interaktive Video „Coal­scapes“ von Florian Manz, Julius Schrank und Lucas Wahl, in dem man mittels steuerbarer 360-Grad-Kamera im Rheinischen Braunkohlerevier, aber auch im besetzten Hambacher Forst unterwegs sein kann.Fromm sagt in diesem Zusammenhang: „Wir wollen nicht nur ein Spektakel der Bilder machen, sondern wir wollen über die Zukunft des Visuellen Journalismus reden und reflektieren.“

Und so entstand die Idee zur Reihe „Zehn Tage, zehn Themen“, die sich als thematische Rahmung des Festivals versteht: Der Abend „Stereotypen“ widmete sich bereits dem faktischen Bild vom Islam hierzulande, am Freitag dieser Woche wird es um das Thema Fotobuch gehen, das man keineswegs als analogen Klassiker abschreiben und in die Vitrine legen sollte. Das Tagesthema „Auf Augenhöhe? Equality“ zeigt am kommenden Samstag, dass die Debatte um Gleichberechtigung und auch um die visuelle Auflösung der Geschlechter in der FotografInnen-Szene angekommen ist. Nur – ist das auch schon zu sehen? Und wenn, wie sieht es dann aus?

Wer bei diesem und anderen Themen nicht nur zuhören, sondern sich an der Diskussion selbst beteiligen will, der kann sich auf der Internetseite anmelden und wird dann per Zoom-Videokonferenz dazugeschaltet – bis zu 500 TeilnehmerInnen können dabei sein. Für alle anderen wird die Veranstaltung live gestreamt und steht anschließend sowohl auf Youtube als auch auf der Lumix-Homepage zum Nachsehen und Nachhören jederzeit zur Verfügung.

Wann ist Mann ein Mann? Das fragt sich Jeremy Suyker mit Fotos vom diversen Berliner Rugby-Club „Berliner Bruisers“ Foto: Jeremy Suyker/item

Und das Coronavirus? Ein gesellschaftlicher Einschnitt, ein fundamentales Ereignis, das geradezu danach ruft, visuell nicht nur dokumentiert, sondern auch bewertet und nicht-sprachlich kommentiert zu werden. Da die Einreichungsfrist für den allgemeinen Wettbewerb aber bereits Ende Januar dieses Jahres endete, wo Corona noch kein Thema war, finden sich entsprechend auch noch keine Arbeiten. Doch die Pandemie und ihre gesellschaftlichen Folgen werden am heutigen Dienstagabend ab 20 Uhr im Panel „Im Krisenmodus“ Thema sein. Dort werden Rafael Heygster und Helena Lea Manhartsberger, die beide in Hannover Fotografie studiert haben, über ihr Projekt „Corona Rhapsody“ berichten, das sich der sichtbaren Unwirklichkeit der Anti-Corona-Maßnahmen für das öffentliche wie private Leben widmet.

Geschaltet wird auch ein Podcast, in dem der Leipziger Fotograf Ingmar Björn Nolting von seiner Arbeit erzählt. Nolting reiste seit dem Ausbruch der Pandemie quer durch Deutschland und brachte schließlich Bilder von den Grenzschließungen oder von Gottesdiensten im Autokino mit.

Die drei Letztgenannten sind auch mit Arbeiten im allgemeinen Wettbewerb vertreten: Manhartsberger mit ihrer Fotostrecke „Kandaka – Women of the Sudanese Revolution“ über fünf Frauen, die für ein selbstbestimmtes Leben kämpfen; Rafael Heygster mit seiner Fotoserie „I died 22 times“, die zeigt, wie sich der Krieg auf internationalen Waffenmessen oder auf Airsoft-Geländespielen präsentiert. Und Nolting ist mit seinem Langzeitprojekt „Hinter Fassaden“ über eine nicht immer freiwillig gewählte Hochhausgemeinschaft in Göttingen dabei: Als ambitioniertes Modellprojekt in den 1970er-Jahrengestartet, ist das 18-stöckige, heruntergekommene Gebäude heute Zufluchtsort wie Schutzraum für Menschen, die sich sonst schwer eine Wohnung leisten können; Nolting selbst wohnte fünf Monate dort.

„Lumix Festival für jungen Bildjournalismus“: bis So, 28. 6., www.lumix-festival.de

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