Eisberge treiben vorbei

Katharina Grosses opulentes Werk „It Wasn't Us“ eröffnet den Hamburger Bahnhof wieder. Es kann auch als Post-Corona-Kunstwerk und kulturpolitisches Statement gelesen werden

Katharina Grosse, „It Wasn’t Us“, Ausstellungsansicht Hamburger Bahnhof Foto: Katharina Grosse/VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Von Tom Mustroph

Etwa ein Dutzend Aufsichtskräfte bewegen sich durch die 2.000 Quadratmeter große und bis zu 18 Meter hohe einstige Bahnhofshalle und bereiten die Eröffnung vor. Sie tragen Masken, trotz der enormen Dimensionen des Baukörpers und der darin enthaltenen Atemluft. Maskenpflicht besteht auch für die Besucher, die ab Sonntag wieder in Berlins Museum der Gegenwart kommen können. Mehr als einen Monat hat sich die Museumsleitung nach der Lockerung des Lockdowns Zeit dafür gelassen.

„Einige Häuser der Staatlichen Museen haben schon früher aufgemacht und getestet, wie es geht. Wir haben uns für die zweite Welle entschieden. Und wir wollten auch, dass die Ausstellung von Katharina Grosse rechtzeitig zur Wiedereröffnung fertig wird und wir mit einer neuen Ausstellung ein kräftiges Zeichen setzen können“, erzählt Gabriele Knapstein, Leiterin des Museums, der taz.

Ein kräftiges Zeichen ist „It Wasn’t Us“ gewiss. Grosse platzierte gewaltige Styroporkörper in den Raum, besprayte sie mit intensiven, dynamischen Farbschichten und setzte die Farbexplosion dann auch auf dem Boden sowie dem Außengelände fort.

Die wilden Bögen scheinen den Turbulenzen des Windes zu folgen, wirken wie ein fixierter Moment eines Sturms, der durch die alte Bahnhofshalle und das angrenzende Gelände fegte. Die Styroporkörper erinnern in ihrer abstrakten Form an Eisberge, die nun durch die komplett geleerte Halle treiben.

Ganz überraschend entwickelte sich das Projekt zur Covid-19-gerechten Show. Ästhetisch wirkt es wie das Bild zur Befreiung aus dem Lockdown. Hygienetechnisch passt es wegen der reichlichen und gut verteilten Atemluft ebenfalls. Pandemiebezogene Anpassungen gibt es dennoch. Besucher müssen Zeittickets erwerben. Markierungen lenken Wege und sorgen für Abstände. Das Personal ist durch Plexiglas geschützt.

Immerhin können bis zu 1.000 Besucher pro Tag herein – weniger als die Hälfte wie zu Spitzenzeiten, als 2.500 Besucher im Haus gesichtet wurden, aber immer noch mehr als die etwa 750 Menschen an schlechten Tagen bei Normalbetrieb. Die gewöhnlich langen Ausstellungszeiten machten es auch möglich, dass keines der geplanten Projekte abgesagt werden musste, sondern sich das Programm lediglich zeitlich nach hinten verschiebt.

Für Katharina Grosse brachte die Pandemie sogar mehr Zeit fürs Sprayen. Konzeptionelle Änderungen habe es deswegen aber nicht gegeben, erklärt Knapstein. Die weiten Bögen, die die Farben auf dem Boden beschreiben, wirken dennoch als Ausdruck von größeren Zeitverläufen. Und in den Farbrausch ist man sogar geneigt, eine Form von Befreiung, von Ausbruch nach dem Lockdown hineinzuinterpretieren.

Weil die Farbverläufe auch die Wände der Rieckhallen hochbranden, kommt „It Wasn’t Us“ sogar ein kulturpolitischer Aspekt zu. Die Kunst greift sich hier noch einmal die Hallen, die der Investor, die Wiener CA Immobilien AG, offenbar zugunsten eines neuen Büroturms der sogenannten Europa City abreißen lassen will. Jedenfalls wurde der Mietvertrag nicht verlängert. Und auch die Sammlung von Mick Flick, zusammengetragen dank des Kapitals, das die Unternehmerfamilie Flick durch Zwangsarbeit während der NS-Zeit erworben hatte, soll 2021 ausziehen.

Für Katharina Grosse brachte die Pandemie mehr Zeit fürs Sprayen

Für den Hamburger Bahnhof bedeutet dies einen herben Verlust. Denn für Ausstellungen der zeitgenössischen Kunst konnte das Haus bislang neue Positionen gut in Dialog mit älteren Werken aus der Sammlung bringen. „Jetzt wird der Leihverkehr wohl zunehmen“, ist Knapstein besorgt. Ausstellungen dürften deshalb teurer werden oder weniger dicht. Und der CO2-Abdruck wächst wegen des Flugverkehrs der Leihkunst.

Ganz aufgegeben hat Knapstein die Rieckhallen – in ihren Worten die „wohl längste Ausstellungshalle Europas“ – offenbar aber nicht. „Solange ein Gebäude steht, kann man es bespielen“, meint sie optimistisch.

Im Portfolio des Investors sind die Rieckhallen noch in ihrer aktuellen Form aufgeführt. Allerdings nimmt dort der Kapitaldruck zu. 26 Prozent der Anteile gehören bereits dem US-Investor Starwood Capital, weiterer Aktionär ist der Investmentfonds Blackrock. Fonds dieser Art fordern gewöhnlich Jahresrenditen von 15 Prozent. CA Immobilien gab für 2019 Renditen um die 5 Prozent bekannt. Kapital, das zudem mindestens teilweise in Steueroasen geparkt ist, bedroht auch hier gewachsene Strukturen.

Die Kunstsammlung von Mick Flick residiert rein rechtlich übrigens ebenfalls in einer Steueroase. Grosses Übermalarbeit ist so gesehen die attraktive Oberfläche von Steuerflucht-Monumenten. Sie macht allerdings auch auf den Zusammenhang aufmerksam. Und selbst ist sie wenig sammlertauglich: Die Farben werden nach Ausstellungsende abgetragen, die Styroporkörper entsorgt.

Hamburger Bahnhof, bis 10. Januar