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Prozess gegen SS-WachmannOhne Erinnerung und Anteilnahme

Nach 75 Jahren muss sich ein ehemaliger KZ-Wachmann vor Gericht für Beihilfe zum Mord verantworten. Reglos verfolgt er die Aussagen von Überlebenden.

Angeklagt wegen Beihilfe zum Mord in 5.230 Fällen – Bruno D. im Saal des Hamburger Landgerichts Foto: Christian Charisius /dpa

Hamburg taz | Filzhut, Sonnenbrille und Aktendeckel – mit diesem Sichtschutz schiebt seit dem 17. Oktober 2019 ein Justizbeamter Bruno D. im Rollstuhl an den über 30 Sitzungstagen zur Verhandlung vor der Jugendstrafkammer des Hamburger Landgerichts. Die Jugendstrafkammer deswegen, weil Bruno D. damals 17 Jahre alt war. Der ehemalige SS-Wachmann muss sich wegen der Beihilfe zum Mord in 5.230 Fällen zwischen dem 9. August 1944 und dem 26. April 1945 im KZ Stutthof verantworten.

Schon zu Beginn erklärte der heute 93-Jährige: „Nicht schuldig“ und sagte, vom „Herzen aus“ wäre er kein „SS-Mann“ gewesen. Seinen „Lebensabend“ habe er sich anders vorgestellt. Am gestrigen Verhandlungstag betonte Bruno D.s Verteidiger, dass D. durch Erziehung und Korpsgeist keine „eigene Handlungsoption“ habe sehen können. Die Häftlinge hätten ihm Leid getan, hatte Bruno D. zu einem früheren Zeitpunkt gesagt. Doch die Berichte von Überlebenden des Lagers nahe Danzig haben ihn nicht sichtbar bewegt.

Am 33. Verhandlungstag ließ sich bei der Aussage des Zeugen David Ackermann aber nicht mehr feststellen, ob der Beschuldigte erneut reglos dasitzt. Seit der Coronapandemie kann das Verfahren zum Schutz des 93-jährigen Angeklagten nur noch durch eine Audioübertragen aus dem Gerichtssaal in einen anderen Raum verfolgt werden. Dem hohen Alter von Bruno D. ist auch geschuldet, dass eine Sitzung nur zwei Stunden dauern darf.

Aus Lautsprechern war am Mittwoch vergangener Woche die Stimme David Ackermanns zu hören, der per Video aus Israel zugeschaltet war. Die Leitung brach gelegentlich ab, doch die Worte des fast 90-Jährigen, der als letzter von fünf Überlebenden der 41 Nebenkläger aussagte, hallten im Gericht nach. „Ich war nur noch ein Viertel Mensch“, sagte er. 25 Kilo wog er bei seiner Befreiung durch die britische Armee nahe Neustadt an der Ostsee. In den letzten Apriltagen 1945 hatte die SS ihn mit weiteren 350 Häftlingen von Stutthof mit zwei Schiffen über die Ostsee nach Schleswig-Holstein deportiert.

Warum erst jetzt?

Die Anklage gegen Bruno D. ist erst nach 74 Jahren möglich geworden, da bis 2011 NS-Täter nur belangt werden konnten, wenn sie unmittelbar an Tötungen beteiligt gewesen waren. Mit dem Urteil gegen John Demjanjuk, der im Vernichtungslager Sobibor Wachmann gewesen war, änderte sich die Rechtslage. Demjanjuk wurde 2011 wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 28.000 Fällen verurteilt. Seitdem ist es zu weiteren Anklagen wegen Beihilfe gekommen.

Kaltblütige Morde

Allein durch die Enge starben Menschen, berichtete Ackermann und sagte, nur durch „Glück“ habe er im Schiff eine Nische entdeckt, in die er mit zwei Mithäftlingen schlüpfen konnte, sodass sie etwas mehr Platz hatten. Gab es zu trinken und zu essen, fragte die Vorsitzende Richterin Anne Meier-Göring. „Nein, nichts.“ Er habe Meerwasser getrunken, daraufhin schwollen seine Füße stark an. „Glück“ haben er und ein Freund auch gehabt, als sie die letzten fünfzig Meter zur Küste gerade noch schafften, während ein SS-Offizier mit einer Pistole diejenigen erschoss, die nur noch sitzen oder liegen konnten, „kaltblütig“, sechs oder sieben in seiner Nähe.

Auf dem Weg nach Neustadt habe die SS am 3. Mai 1945 alle hundert Meter die letzte Reihe der Häftlinge ins Wasser gejagt, um sie zu erschießen. „Sie wollten unsere Zahl verringern“, berichtete Ackermann. Mit seinen Eltern und der Schwester kam er im Alter von 14 Jahren in das KZ Stutthof. Seine Eltern überlebten das erste Lager außerhalb der deutschen Grenzen nicht.

David Ackermann ist als Zeuge per Video aus Israel zugeschaltet und zeigt Fotos seiner Eltern Foto: Christian Charisius/ dpa

Im Sommer 1944 begann in Stutthof die systematische Tötung. Lagerinsassen wurden in einer Gaskammer ermordet oder durch Genickschuss hingerichtet. „Zudem kamen zahlreiche Personen durch die bewusste Herbeiführung und Aufrechterhaltung lebensfeindlicher Bedingungen wie Nahrungsentzug und Verweigerung medizinischer Versorgung ums Leben“, heißt es in der Anklage. Typhus brach aus. Der Angeklagte Bruno D. betonte mehrfach, als Wachmann nicht viel von den Zuständen und Abläufen im Lager wahrgenommen zu haben. Dem widersprach Ackermann. „Die Wachleute waren auf ihren Türmen höchstens 40 oder 50 Meter entfernt. Sie konnten wie wir die Leichen sehen, wie sie sich angehäuft haben, jeden Tag.“

Der Tod war allgegenwärtig

Mit nüchternen Worten sprach auch Marek Dunin-Wasowicz, der aus einer polnischen Widerstandsfamilie kam, als ein weiterer Zeuge über die menschenverachtenden Zustände. Jeder habe gewusst, dass sie in dem Lager sterben sollten. „Der Weg zur Freiheit führte durch den Schornstein.“ Per Videoschaltung berichtete am 16. Verhandlungstag ebenfalls Halina Strnad aus Melbourne, dass der Tod allgegenwärtig war. Die 92-Jährige schilderte wie Inhaftierte erhängt wurden oder sich aus Verzweiflung selbst das Leben nahmen, indem sie sich in den elektrisch geladenen Zaun warfen.

„Wir wurden Untermenschen genannt und sahen wie Untermenschen aus“, sagte Halina Strnad und berichtete weiter, wie eine Frau ein Baby tot gebar. Mit einer Glasscheibe haben sie die Nabelschnur durchtrennt, doch die Frau starb am Blutverlust. Das tote Baby habe Strnad dann in der Latrine versenkt. „Ein paar Tage später schwamm der Körper des Babys wieder oben auf. Dieses Bild habe ich in meinen Albträumen jahrelang gesehen.“

Diesen Albtraum mag Bruno D. nicht beobachtet haben können. Die „vielen Leichen“ sah er, Bilder des Grauens, die ihn sein Leben lang verfolgten, wie er sagte. Doch sogleich widersprach er, etwas gesehen zu haben von den Hinrichtungen, den Toten im Zaun oder den Menschen, die einfach von Hunden zerrissen wurden.

Der Geruch verbrannter Leichen

Am Ende des zehnten Verhandlungstages jedoch schien die Geduld der Vorsitzenden Richterin Meier-Göring vorbei zu sein. Bruno D. hatte ausgesagt, vom August 1944 bis zum April 1945 im KZ gedient zu haben, wo er auf einem Wachturm neben dem Krematorium eingeteilt war, ein Posten, über den sich andere SS-Männer wegen des Geruchs von verbrannten Leichen beschwerten. Bruno D. sah entblößte Frauen und hörte Schreie aus der Gaskammer. „Sie taten mir furchtbar leid“, sagte er, berief sich aber sogleich auf „Befehlsnotstand“.

Die Vorsitzende Richterin Anne Meier-Göring Foto: Christian Charisius/dpa

„Herr D., Weihnachten ist ja bald. Erinnern Sie sich noch an das Weihnachtsfest 1944 in Stutthoff“, hakte die Vorsitzende Richterin nach. „Nein“, antwortete D. „Wir haben einen Kommandanturbefehl in der Akte, dass eine Jul-Feier stattgefunden hat“, bohrte die Richterin weiter. Keine Erinnerung, bekräftigte D. und berief sich auf Gedächtnislücken, die allerdings nicht auftauchten, wenn er sich selbst schlecht behandelte fühlte. Da wusste er noch, dass seine erste Uniform eine verschlissene war und dass es vom Stockbett „Wanzen regnete“.

Dass von August 1944 bis Anfang 1945 44.000 Gefangen im KZ ankamen, davon wollte Bruno D. nichts bemerkt haben. „Ich kann das nicht glauben“, meinte Meier-Göring. „Entweder Sie lügen uns an, oder es sind Bilder, die so schrecklich waren, dass Sie sie verdrängt haben?“ Oder es sei noch etwas passiert, dass er verschweigen möchte? Ob sein Gewehr womöglich doch zum Einsatz gekommen sei? Nicht mehr ganz so ruhig verneinte Bruno D. Er habe das alles nicht „okay“ gefunden, er hätte „das Leid“ aber auch nicht mindern können. Später erinnert er sich, dass er einmal Häftlingen bei einem Arbeitseinsatz nahe dem KZ erlaubt habe, Fleisch von einem Tierkadaver ins Lager zu schmuggeln.

Ein falscher Zeuge inszeniert Vergebung

Dass er nichts gegen das Leid habe tun können, beteuerte Bruno D. bereits am siebten Verhandlungstag im November 2019. Da hatte ihn Moshe Peter Loth als einer der Nebenkläger gefragt: „Würden Sie mir vergeben? Für den Hass und die Wut, die ich zeitweise auf die Deutschen hatte?“ – „Sicher, ich habe keinen Hass“, entgegnete D. Daraufhin erhob sich der 76-jährige Loth und sagte in den Saal: „Passen Sie alle auf, ich werde ihm vergeben!“ Dann umarmten sich die beiden fest. Allerdings hätte Loth gar nicht Nebenkläger werden dürfen. Seine Eltern waren keine Juden und er wurde nicht im KZ geboren. Loth zog die Nebenklage zurück.

Schon am Verhandlungstag kursierten Zweifel an der Lebensgeschichte. Die Zulassung von Loth, führte Meier-Göring später aus, war allein wegen der Aktenlage gefallen. Nach seiner persönlichen Aussage erschien die Biografie des in den USA lebenden Loth dann allerdings „nicht besonders glaubwürdig“, so die Richterin. „Wir hatten in der Hauptverhandlung sogleich den Eindruck, dass man sich auf diese Zeugen nicht werde stützen können.“

Nebenklagevertreter Cornelius Nestler, der die Überlebende Judith Meisel vertritt, sagte, ihm sei bereits nach einer kurzen Internetrecherche klar geworden, wie abwegig die Darstellung Loths sei. Es sei erschreckend, dass die Anwälte „das nicht gesehen“ haben. Er befürchtet, andere Gerichte könnten in ähnlichen Verfahren den Nebenklägern in Zukunft weniger vertrauen und sie, wenn „sie nur ihre eigene Geschichte erzählen könnten“, nicht mehr als Nebenkläger zulassen. Diese Sorge wies Meier-Göring zurück. Man wisse, dass die Nationalsozialisten viele Dokumente vernichtet hätten. Um den Opfern gerecht zu werden, sei es nötig, ihnen zu vertrauen.

Den Opfern gerecht werden? In diesem Prozess sind die Ermordeten noch gar nicht berücksichtigt, von denen der Zeuge David Ackermann berichtete. 257 Häftlinge aus dem KZ Stutthof wurden am 3. Mai 1945 von SS-Wachmännern und Marinesoldaten bei Neustadt umgebracht. Bruno D. räumte ein, vor Ort gewesen zu sein und auch, dass „einige“ erschossen wurden. Der als Gutachter hinzugezogene Historiker Reimer Möller nannte das Massaker von Neustadt das „zweitgrößte Gewaltverbrechen in Norddeutschland in der Endphase“. Auf Nachfrage der Richterin sagte Bruno D., höchstens sieben Leichen verladen zu haben. Sonst habe er nichts gesehen. Anne Meier-Göring wollte das erneut nicht so ganz glauben. Am 23. Juli wird das Urteil erwartet.

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