Einzelgänger als Wahrzeichen

Wiedergelesen: Jonas Geist erkundet 1976 in seinem „Versuch, das Holstentor zu Lübeck im Geiste etwas anzuheben“ die „Natur des Bürgertums“

Wer eine Backstein-schwere Baugeschichte erwartet, wird enttäuscht – und vielmehr aufs Angenehmste unterhalten

Von Frauke Hamann

Das war knapp: 42 Bürgerschaftsmitglieder für eine Restaurierung und damit den Erhalt des Lübecker Holstentors, 41 dagegen. Das war 1863. Für Jonas Geist ist dieses Tor der Schlüssel zur Stadt an der Trave, für ihn gehört es zur „Galerie der ewigen Werte deutsch-bürgerlicher Repräsentation“. Was wäre die Stadt der „7 Türme“, ohne den massigen Verteidigungsbau zwischen Wall und Trave, dieses markante Element seiner Stadtsilhouette, heute das stadtgeschichtliche Museum?

Edvard Munch malte das Holstentor 1907 in Öl, Andy Warhol fertigte 1980 vier Siebdrucke in leuchtenden Farben. Der 50-DM-Schein mit Holstentor ist Geschichte, aber jedes Stück Niederegger Marzipan, vielerlei Produkte und Souvenirs ziert das stilisierte Holstentor – das Wahrzeichen ist längst auch zum Warenzeichen geworden.

Das Holstentor, dieser „baugeschichtliche Einzelgänger“, hat den gebürtigen Lübecker Jonas Geist zeitlebens beschäftigt. Sein „Versuch, das Holstentor zu Lübeck im Geiste etwas anzuheben“ erscheint 1976 rechtzeitig vor dem 500. Jubiläum des Bauwerks und fünfzig Jahre nach Thomas Manns Rede „Lübeck als geistige Lebensform“ zu Ehren seiner Geburtsstadt.

Geists Buchtitel spielt auf den eigenen Namen ebenso an wie auf die Mann’sche Rede. Außerdem will er, wie wohl jeder, der vor dem Holstentor steht, dieses etwas anheben – weil dessen Rundmauern-Türme beunruhigend geneigt stehen.

Wer nun eine Backstein-schwere Baugeschichte erwartet, wird enttäuscht – und vielmehr aufs Angenehmste unterhalten. Der Architekturhistoriker Geist erkundet die Komponenten „deutschen Bürgerstolzes“ anhand des Umgangs mit dem ikonisch gewordenen Holstentor. So zeichnet er die Porträts der ungleichen Brüder Heinrich und Thomas Mann, denen Lübeck seinen Platz auf der literarischen Weltkarte verdankt, in die beiden Türme des Holstentors: „Der eine sucht zu veredeln, der andere auszuhöhlen.“

Geists Buch liefert eine geistreiche, spitzzüngige „Prozession der Fakten“ von den Anfängen über fünf Jahrhunderte, eben bis 1976. Nur weil Ratsherr Johan Broling testamentarisch eine hohe Summe dafür aussetzt, wird das ungewöhnliche Festungsbauwerk errichtet – freistehend, doppeltürmig und reich ornamentiert.

Geist lässt das Holstentor selbst sprechen: „Schon während des Baues begann ich zu versacken.“ Denn zwischen 1466 und 1478 fehlt die Technologie für die erfolgreiche Gründung im Sumpfland. Das gewaltig-gedrungene Holstentor neigt sich also von Anbeginn. Am Übergang von der Gotik zur Renaissance zeigt es Lübecks Reichtum, es ist auch eine Machtdemonstration der freien Reichsstadt gegenüber den machthungrigen Dänen. Die Inschrift „Concordia domi foris pax“ („Eintracht innen und Friede draußen“) bekundet Einigkeit und Wehrhaftigkeit zugleich.

Geist hat seiner Chronik zahlreiche Zeichnungen und Skizzen von eigener Hand beigefügt, sie verdeutlichen die bauliche Gestalt, aber auch die Lage des Holstentors – südlich vor der Lübecker Altstadt auf einer Grünfläche, beidseitig umströmt vom Autoverkehr. Benachbart bieten die im „Innern total kastrierten Salzspeicher“ ein beliebtes Fotomotiv, „ausgegossen in Beton, eng gedrängt wie Hühner auf der Stange.“ Die glorreichen Hanse-Zeiten sind vorbei, noch immer aber steht das Holstentor in „splendig isolation“. Pläne aus den 1970er-Jahren, in unmittelbarer Nähe ein gigantisches Kaufhaus zu errichten, bleiben – trotz Zustimmung der Bürgerschaft – dank einer erfolgreichen Bürgerinitiative unrealisiert.

Jonas Geist hätte das gewiss gefreut. Seine Hommage an das Holstentor bietet eine unterhaltsame, aber auch lehrreiche Bau-, Handels- und Bewusstseinsgeschichte einer stolzen, selbstbewussten Stadt. Jüngst warben „7 Lights of Hope“ auf den Holstentor-Türmen für das Abstandhalten in Corona-Zeiten – und verdeutlichten zugleich das durchaus ambivalente Verhältnis der Lübecker zu ihrem Wahrzeichen.

Jonas Geist: „Versuch, das Holstentor zu Lübeck im Geiste etwas anzuheben. Zur Natur des Bürgertums“. Verlag Klaus Wagenbach 1976, 143 Seiten