piwik no script img

Boltenhagens Bürgermeister über Corona„Die Hälfte hat Angst“

Raphael Wardecki (Grüne) hat als Verwaltungschef eines Ostseebades viel zu tun: versöhnen, beruhigen und den Tourismus wieder zum Laufen bringen.

Das Wiederhochfahren ist schwieriger als das Stoppen: gesperrte Seebrücke in Boltenhagen Foto: Jens Büttner/dpa
Gernot Knödler
Interview von Gernot Knödler

taz: Herr Wardecki, es war Ihr großer Traum, Bürgermeister von Boltenhagen zu werden. Haben Sie es angesichts der Coronakrise schon mal bereut?

Raphael Wardecki: Nein, das nicht. In Boltenhagen hat man viele unterschiedliche Aufgaben. Die ­Coronakrise kam oben drauf. Sie ist seit März das dominierende Thema.

Können Sie noch ruhig schlafen, wenn Sie an die Zukunft Boltenhagens denken?

Die eine Hälfte der Bevölkerung hat Angst, krank zu werden, die andere Hälfte hat die Sorge, das wirtschaftlich nicht zu schaffen. Wir haben bisher sehr Acht gegeben auf die Menschen, die Angst hatten, krank zu werden. Jetzt heißt es aus Schwerin, dass man die Wirtschaft wieder hochfahren soll. In irgendeiner Weise wird das klappen. Wir müssen vorsichtig sein, bei dem was wir anpacken: Abstände halten, reinigen.

Sie haben die Angst angesprochen: Sind Gäste und Zweitwohnungsbesitzer angefeindet worden?

Es gab in der Hochphase schwierige Tage, wo jemand mit auswärtigem Kennzeichen unter Generalverdacht gestellt wurde. Das haben wir sofort aufgearbeitet.

Wie sah das aus?

Bürger haben uns gesagt: „Wir glauben, dass jemand nicht hier sein darf. Wir haben Angst.“ Das Ordnungsamt hat das geklärt. In vielen Fällen war es so, dass die Personen eine Legitimation hatten, hier sein zu dürfen. Den Hinweisgeber habe ich hinterher angesprochen: „Leute bleibt ruhig, das hat alles seine Richtigkeit.“ Das trägt dazu bei, dass man so eine Situation wuppen kann.

Haben sich auch Gäste an Sie gewandt?

Es gab natürlich Zweitwohnungsbesitzer, die traurig waren, dass sie nicht kommen konnten, die auch hier Verpflichtungen hatten. Viele Gäste bekundeten in den sozialen Medien, dass sie es schade finden, nicht an die Ostsee zu können. Da haben wir aber momentan die schlimmsten Tage überstanden.

Wie muss man sich die Auswirkung der Coronapandemie auf den Ort vorstellen?

Der Ort war und ist erschreckend leer. Man sieht beim Einkaufen nur Einwohnerinnen und Einwohner. Das ist eine Situation, die man kaum kennt. Im nächsten Jahr wird sich zeigen, was das für die Einnahmen aus Kurabgaben und Gewerbesteuern bedeutet. Jetzt folgen alle dem Motto: Wir wollen gute Gastgeber sein und versuchen Lösungen zu entwickeln. Wie kann ich meinen Betrieb so gestalten, dass er den hygienischen Bestimmungen entspricht? Es ist spannend, wie kreativ Menschen unter solchen Bedingungen werden.

Wie viele Boltenhagener leben vom Tourismus?

Gefühlt 100 Prozent. Es gibt sicher welche, die Rentner sind oder Beamte, aber der Ort lebt vom Tourismus. Wir haben keine großen Gewerbegebiete oder Unternehmen, die nicht vom Tourismus abhängig sind.

Wie stark schlägt die Krise bei den Tourismusbetrieben ins Kontor?

Die meisten sagen: Das war alles ganz schwierig. Man hat es bis hierher geschafft, doch jetzt müsste es losgehen.

Springt die Gemeinde ein, wenn es mal knapp wird?

Wir haben uns erst mal um den Bevölkerungsschutz gekümmert. Wir waren eine der ersten Gemeinden, die Nachbarschaftshilfe entwickelt haben. Für die Unternehmen sind wir ein guter Dienstleister. Wir glauben aber auch, dass unser Ort sehr schnell voll wird, wenn es mit dem Tourismus wieder losgeht. Das hat sich schon gezeigt: Als das Wetter gut war, war halb Schwerin hier.

Mit wie viel weniger Geld wird die Gemeinde auskommen müssen?

Dafür haben wir noch keine Prognosen. Wir gehen davon aus, dass wir im Sommer mit einem Nachtrag des Haushalts rechnen müssen. Wie groß der Einbruch sein wird, hängt davon ab, wie schnell alles wieder ins Laufen kommt. Eventuell könnte man darauf hoffen, dass wir mit einem blauen Auge und einer schwarzen Null daraus hervorgehen.

Tatsächlich mit einer schwarzen Null?

Viele Betriebe hoffen, dass sie mit einem guten Sommergeschäft vieles rausholen können.

Was macht Ihnen gerade am meisten Sorgen?

Ob das Verständnis dieser zwei Lager, von denen ich eingangs gesprochen habe, füreinander da ist: derjenigen, die vom Tourismus leben und dringend arbeiten müssen – und der anderen, die Angst haben.

Womit haben Sie am meisten zu tun?

Mit allem. Man hätte ja nicht gedacht, dass es schwieriger ist, ein System wieder hochzufahren, als es runterzufahren. Mit dem Lockdown haben wir sehr schnell und rigoros gehandelt, indem wir etwa unsere Seebrücke geschlossen haben. Das alles jetzt wieder zu lockern und dabei von den Vorgaben aus Schwerin abhängig zu sein, ist nicht einfach. Letzte Woche kam die Message, was passieren soll, am Montagabend, die Verordnung am Freitagabend – und dazwischen stand das Telefon weder in der Kurverwaltung noch in der Amtsverwaltung still.

Das heißt, alle wussten, dass etwas unterwegs ist...

Richtig. Und wir mussten dann immer sagen: Wir haben noch nichts schwarz auf weiß, wir wissen noch nicht genau, wie es aussehen soll. Das muss jetzt alles mit Hochdruck nachgearbeitet und kommuniziert werden. Das ist die spannende Aufgabe jetzt.

Warum ist das Hochfahren so schwierig?

Weil momentan keine Gäste da sind, ist die Frage: Was kann ich jetzt schon öffnen und in welchen Schritten mache ich das? Bei der Tourismusinformation wissen wir seit Freitagabend, dass wir sie öffnen dürfen. In den vergangenen Wochen haben wir natürlich schon so was wie einen Spuckschutz aufgebaut. Aber dann müssen auch die Mitarbeiter wieder zugeordnet und die Absperrung muss umgebaut werden. Der Strand muss gereinigt werden. Dazu kommt der Bau der Dünenpromenade als Millionenprojekt. Es läuft ganz viel parallel. Das in die richtigen Bahnen zu bringen, wird sportlich.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!