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Flanieren in BerlinGehen, wahrnehmen und denken

Der Audio-Walk „The Politics of Public Space II“ durch den Wedding bietet Nutzer*innen ein vielstimmig orchestriertes Berlin-Erlebnis.

Was trägt der Flaneur im 21. Jahrhundert? Einen fetten Kopfhörer Foto: Poligonal

Flaneure wie der Schriftsteller und Journalist Sigi Sommer, der als „Blasius der Spaziergänger“, den Münchner Alltag pointiert kolportierte, gelten als ausgestorben; das Sichtreibenlassen in dieser speziellen Form ist ein Phänomen der Moderne, und doch feiert jetzt der Stadtspaziergang, als Bewegungsart der Stunde, sein Comeback.

Audiowalks, wie sie die Agentur Poligonal anlässlich der Krise entwickelt hat, funktionieren auch unter Einhaltung von Physical Distancing. Der Stadtraum soll reflexiv erschlossen werden. Ein Selbstversuch: Tiefster Wedding, der Ort des ersten „Echos“ des Walks „The Politics of Public Space II“ ist in Sichtweite. Wird eine Station erreicht, spielt das Smartphone über eine App, die auf Geotagging basiert, die passende Tonspur ab. Doch noch ist nichts zu hören, also noch ein bisschen schlendern, zwischen Müllerstraße und Café Leo, bis sich der Blick verfängt, genau wie die Gedanken.

Eher keine Gegend für einen Upper-Class-Dandy des 19. Jahrhunderts, den frühesten Flaneur, der in Metropolen wie Paris zu Hause war und den Luxus solcher Weltstädte als Teil seiner Existenz noch gleichsam inte­ressenslos und aus einem intrinsischen Vergnügen heraus betrachtet haben mochte.

Auch der spätere Müßiggänger, nun Künstler oder Essayist, begriff sein Spazieren als Selbstzweck, als Gegenentwurf zur Hast der Stadt, mit der er sich allerdings „als Preisgegebener der Menge“, wie Walter Benjamin notierte, zu arrangieren hatte – „der Rausch, dem er sich überlässt, ist der der vom Strom der Kunden umbrausten Ware“.

Distanz als Teil des urbanen Lebens

„Pling“ – der erste Audiotrack springt an, und Sabine Knierbein, unter anderem Professorin für Europäische Urbanistik, spricht. Den derzeit von Restriktionen bestimmten Stadtraum, einen Ort der Vielfalt und sozialen Mischung, setzt sie in Bezug zu Abhandlungen des Philosophen und Gründers der Stadtsoziologie, Georg Simmel. So sei die Einhaltung von Distanz seit je Teil des urbanen Lebens gewesen, diente sie den Metropoliten doch als Schutz vor Reizüberflutung und Enge.

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Im Hier und Jetzt steht einem gemächlichem Schreiten wenig im Wege. Nie wirkte der Leopoldplatz so leer gefegt, und es entfällt „ein Bad in der Brandung“, als das der Archetyp des Straßenstreunens und Virtuose dieser Kunstform, Franz Hessel, „das besondere Vergnügen, langsam durch belebte Straßen zu gehen, überspült zu werden von der Eile der anderen“, definierte.

Doch wird das flanierende Subjekt auch gegenwärtig, so wie Hessel schon vor mehr als neunzig Jahren konstatierte, argwöhnisch beäugt. Wenn auch aus ­einem anderen Grund – der Autor von „Spazieren in Berlin“ befürchtete, man könnte ihn für einen Taschendieb halten.

Die Umgebung ist nur scheinbar verwaist. Ein Jogger überholt auf dem Weg zum Max-Josef-Metzger-Platz, wo gepicknickt wird, Kinder, die die „Trümmerfrauen-Stele“ umtoben, und die App gibt den rein akustischen Beitrag „Listening to a Pandemic“ wieder, den Sound eines Lockdown: Staubsauger, Duschen oder Kaffeetassenklappern.

Derweil wandern die Augen von der zwölf Meter in den Himmel ragenden Säule, die an den Wiederaufbau Berlins und den Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953 erinnert, zu den Parkbänken, einem Treff von Drogennutzer*innen, so stark frequentiert wie lange nicht.

Die Stadt werde aktuell paradoxerweise teils intensiver, sogar kreativer genutzt, erzählt Architekt und Poligonal-Mitbegründer Lukas Staudinger später am Telefon. Bewusst hätten sie Anlaufstellen für die Walks ausgewählt, an denen sich die Covid-19-bedingten Veränderungen gut beobachten ließen und sich ohnehin urbane Transformationsprozesse vollzögen.

Öffentlicher Raums als politische Bühne

Beim Gartenprojekt „Himmelbeet“ an der Schulstraße werkelt die Nachbarschaft. Passend gibt es dazu „Gemeinschaftsgärten und Zivilgesellschaft“ auf die Ohren, den Auszug eines Artikels der Mit­autorin von „Stadt der Commonisten“, Karin Werner, rezitiert und kommentiert von dem Stadt- und Freiraumplaner Toni Karge.

Unterschiedlichen ­Menschen eine Stimme zu geben sei ihr Ziel, sagt Staudinger. So sei der interdisziplinäre Audiomix aus Stimmen von internationalen ExpertInnen plus etablierter Literatur zustande gekommen.

Insgesamt kann beim Streifzug vom Leopold- bis in den Sprengelkiez in 15 Audiobeiträge reingehört werden, in Schriften von Gia Kourlas, James Holston oder Lucius Burckhardt, vorgelesen von Soziologen, Historikern oder Stadtanthropologen, die Querverweise geben oder Gedachtes beisteuern. Dabei werden einige Aspekte angesprochen, City Maintenance, Gentrifizierung oder die Verhandlung des öffentlichen Raums als politische Bühne. Eine Richtung gibt der Weddinger Walk indes nicht vor, vielmehr unterfüttert er das Gehen, Wahrnehmen und Denken.

Auch die anderen Poligonal-Audiorundgänge sind empfehlenswert, wie der zur Kunst am Bau um den Alexanderplatz; ein vierter ist bereits in der Mache. Die akustische Zeitreise ins Berlin der 1920er und 1930er Jahre wird bestückt sein mit Texten von Siegfried Kracauer oder der in den letzten Jahren der Weimarer Republik berühmt gewordenen Irmgard Keun, die in ihrer Romanprosa aus der nicht mehr ganz Neuen Sachlichkeit mit präzise gehörter Umgangssprache, mit Lyrismen, inneren Monologen und einem eigenen großstädtischen Perzep­tions­topos artistische Popkultur machte.

Schon in ein paar Wochen soll diese Erkundungstour, die sich demnach auch der sträflich vernachlässigten weiblichen flânerie widmen will, abrufbar sein.

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