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Zweifach ausgeschlossen

Immer mehr Wohnungslose sind psychisch krank. Seit gut zwei Jahren gibt es in Hamburg eine eigene Sprechstunde. Ein neues Zuhause finden Betroffene im Haus Münze – mit seiner Kapazität auch nur ein Tropfen auf dem heißen Stein

Nur selten suchen Wohnungslose medizinische Hilfe auf – erst recht keine psychiatrische

Von Christine Schams

Man sieht sie scheinbar überall. Sie schlafen in Häusereingängen und unter Brücken, sie streifen durch Bahnhöfe und Straßen und sind doch statistisch eine der am schwersten zu erfassenden Gruppen: Obdachlose. Relativ neu ist deshalb die Erkenntnis, dass immer mehr Wohnungslose psychisch krank sind. Darin sind sich die Verantwortlichen der Wohnungsloseneinrichtungen in Hamburg einig. Ihr – neben eigener Erfahrung – einziges Material: Eine Stichprobenuntersuchung der Johannes-Wilhelm-Rautenberg-Gesellschaft. Der auf die Betreuung seelisch Behinderter spezialisierte Verein stellte 1999 fest, dass von den rund 1.200 Obdachlosen in Hamburg etwa 20 Prozent psychisch krank sind.

Die Ursachen hierfür sind unerforscht: „Einerseits haben sich die Lebensbedingungen dieser Menschen geändert, vor allem in der Großstadt, in der Alkohol und Drogen eine große Rolle spielen, andererseits haben viele Patienten bereits Psychiatrieerfahrung hinter sich“, berichtet Psychiater Richard Becker, der seit mehreren Jahren im Obdachlosenbereich arbeitet. Bereits in den 90ern registrierten er und weitere Vertreter der hiesigen Wohnungsloseneinrichtungen die steigende Zahl der psychisch kranken Obdachlosen. Da war aus dem Handlungsbedarf längst Druck geworden.

„Problematisch zu dieser Zeit war jedoch, dass die Hilfesysteme nicht kooperierten“, erklärt Jens Goldbeck, Sozialpädagoge in der Tagesaufenthaltsstätte für wohnungslose Menschen (TAS) in der Bundesstraße. Zusammen mit Richard Becker und Manfred Voelpel, Leiter des Sozialdienstes im Klinikum Nord, initiierte Goldbeck 2000 den Arbeitskreis „Psychisch krank und wohnungslos“, in dem Vertreter der TAS, der Kemenate, des Sozialpsychiatrischen Dienstes Eimsbüttel und des UKE als Psychiatrische Institutsambulanz regelmäßig in so genannten Dreiecksgesprächen zusammenkommen.

Der Arbeitskreis, der sich mittlerweile zu einem maßgeblichen Forum etabliert hat, will die psychiatrische Arbeit vorantreiben und strebt eine engere Zusammenarbeit mit den Jugendämtern an, denn immer mehr junge Erwachsene suchen die Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe auf. „Die Jugendlichen, von denen viele psychisch belastet sind, werden von den Jugendämtern aus Unwissenheit dorthin geschickt“, erklärt Goldbeck. „Die Ämter allerdings können nicht wissen, dass dies Einrichtungen für Erwachsene sind und dass es in diesem zum Teil sehr rau zugeht.“

2002 startete in der TAS die psychiatrische Sprechstunde, ein bundesweit einmaliges Projekt, in der Wohnungslose mit Depressionen oder Schizophrenie regelmäßig behandelt werden. 2003 wurde dieses Projekt mit dem Sozialpreis „innovatio“ ausgezeichnet. „Der Spruch ‚Niemand muss auf der Straße schlafen‘ stimmt. Es gibt genügend Einrichtungen, in denen Obdachlose unterkommen, allerdings gab und gibt es so gut wie keine Einrichtungen für Menschen mit der Doppelproblematik obdachlos und psychisch krank“, erklärt Richard Becker. Dieses Defizit machte sich in der Sprechstunde schnell bemerkbar, mittlerweile ist das Angebot unverzichtbar. „Das lag vor allem an Richard Becker, der direkt auf die Wohnungslosen zugegangen ist“, berichtet Jens Goldbeck.

2003 wechselte Becker in die Ambulanz des Klinikums Nord Ochsenzoll, wo er für die Betreuung und Behandlung von chronisch Kranken zuständig ist. Die Arbeit mit psychisch kranken Obdachlosen hat er derweil nicht aufgegeben. Finanziert vom LBK, bietet Becker einmal pro Woche eine psychiatrische Sprechstunde in einschlägigen Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe an: Herz As, Haus Münze, Frauenzimmer, Pik As, Männerwohnheim, Jakob-Junker-Haus.

Dass sich der Psychiater selbst auf den Weg zu seinen Patienten macht, ist für die Arbeit unverzichtbar: „Sie würden nie zu mir nach Ochsenzoll kommen“, weiß Richard Becker. Auch das ist charakteristisch für Wohnungslose: Nur sehr selten suchen sie medizinische Hilfe auf, erst recht keine psychiatrische.

Seine Arbeit in den verschiedenen Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe will Becker zukünftig ausweiten und bekommt dabei Unterstützung vom Ärztlichen Direktors des Klinikums Nord, Heinzpeter Moecke: „In einem Gespräch mit ihm wurde meine Arbeit anerkannt und auch die Bereitschaft zur Förderung signalisiert“, berichtet Becker.

Der Fahrplan: Voraussichtlich ab Ende des Jahres wird Becker nur noch halbtags in der psychiatrischen Ambulanz in Ochsenzoll arbeiten. Dadurch kann seine Arbeit in den Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe auf eine halbe Stelle aufgestockt werden. „Dann kann ich mehr Einrichtungen besuchen und habe auch mehr Zeit für die Patienten vor Ort“, sagt Becker. Einzige Voraussetzung: „Meine Arbeit muss sich tragen, das heißt, ich muss Nachweise erbringen“, erklärt er. „Aber dass mache ich ohnehin und sehe das auch positiv, denn dadurch wird die Problematik dokumentiert.“

Ab Mitte August wird er außerdem in die TAS zurückkehren und einmal pro Woche die psychiatrische Sprechstunde abhalten. Und: „Die letzten Dreiecksgespräche haben ergeben, dass der Psychiater Joachim Horst vom Klinikum Nord eine Sprechstunde anbieten wird“, berichtet Jens Goldbeck. Die Finanzierung der Sprechstunde, bislang ausschließlich aus Drittmitteln, ist somit über den LBK gesichert.

Eine andere neue Form der Hilfeeinrichtung für Menschen mit der Doppelproblematik wohnungslos und psychisch krank ist das Haus Münze in der Norderstraße, in dem seit gut einem Jahr 16 Männer und Frauen ein neues Zuhause gefunden haben. Als Auftraggeber des Projekts übernimmt die Rautenberg-Gesellschaft die Betreuung und Behandlung der Untermieter, die Stadtmission stellt als Hauptmieter Wohnraum zur Verfügung, die Sozialbehörde trägt Kosten für Miete, Unterhalt und ambulante Betreuung.

Auf drei Etagen – eine davon ausschließlich für Frauen – mit Gemeinschaftsküche leben die Untermieter in etwa 20 Quadratmeter großen Einzelappartments – mit unbefristeten Mietverträgen. „Für viele ist es schon ein erster Schritt, überhaupt wieder einen festen Wohnsitz zu haben“, erklärt Leiter David Schmidt.

Vier bis sieben Stunden pro Woche werden sie individuell betreut: bei Behördengängen, Beziehungs- oder Familienproblemen, zur Alltagsstrukturierung oder bei der Schuldentilgung. Betreut werden die Bewohner dabei von drei Mitarbeitern, verteilt auf zwei volle Stellen, und zwar ambulant – eine teilstationäre Betreuung wurde seinerzeit von der Behörde aus Kostengründen abgelehnt. „Wir arbeiten hier an der Grenze des Machbaren“, erklärt dazu David Schmidt. „Dennoch hat das Haus Modellcharakter.“

Allerdings: Mit 16 Personen ist es ausgelastet und, so Schmidt, „angesichts dieser Problematik wirklich nur ein Tropfen auf dem heißen Stein“.

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