Dachgärten für alle

Von der dynastischen Lustarchitektur zur demokratischen Hortitecture: Stefan Schweizer und Frank Maier-Solgk zeichnen die Kulturgeschichte der „Hängenden Gärten von Babylon“ nach

Auch eine Form von „hängenden Gärten“, die Hochhäuser Bosco Verticale in Mailand Foto: Robert Haidinger/laif

Von Ingo Arend

„Des Grünen blühende Kraft.“ Schwer zu sagen, ob sich Stefan Boer­ri von Johann Wolfgang von Goethes poetischer Formel für das befreiende Gefühl plötzlich ausbrechenden Frühlings leiten ließ, als er vor sechs Jahren sein „Bosco Verticale“ eröffnete. Zumindest kam der italienische Architekt dem Traum eines Lebens im immerwährenden Grün ziemlich nahe.

Bei Boerri blüht nämlich gleichsam das Haus. Von jeder der 27 Etagen seiner zwei je 110 Meter hohen Wohntürme mitten in Mailand quellen das ganze Jahr über Bäume, Büsche und Blumen. Auch wenn die Himmelsstürmer Luxusappartements beherbergen, gelten sie bis heute als Meilenstein der Öko-Architektur. Könnte der öde Moloch Stadt nicht immer so schön grün sein?

An den „hängenden Gärten“ von Mailand lässt sich die Wirkmacht des Mythos demonstrieren. Denn das Vorbild Semiramis ist unverkennbar. Doch weder ist sicher, dass die legendäre Königin, der sie zugeschrieben werden, je gelebt hat. Noch, ob wirklich sie die Gärten angelegt hat. Wahrscheinlich wegen dieses Restgeheimnisses faszinieren sie nicht nur die Historiker bis heute so sehr.

Der Düsseldorf Kunsthistoriker Stefan Schweizer schlägt sich in seinem Buch über die Kulturgeschichte dieses antiken Weltwunders auf die Seite der Forscher, die den neubabylonischen König Nebukadnezar II. als dessen Erbauer sehen. Deshalb nennt er sein Buch auch die „Hängenden Gärten von Babylon“.

Spätestens seit den Babylon-Grabungen des Archäologen Robert Koldewey gelten die Gärten als Bauwerk des nicht minder legendären Herrschers. Er ließ sie errichten, damit seine Gemahlin sich an die Berghänge ihrer persischen Heimat erinnert fühlte. Die Gärten „hingen“ freilich nicht, sondern wuchsen auf „Substruktionen“ – gestaffelten Terrassen, die sich wiederum über Gewölben erhoben. Schweizers Werk ist im Wesentlichen eine Überlieferungsgeschichte. So akribisch und beschlagen, aber sehr verständlich, wie schon in seinem 2013 erschienenen Werk über André le Nôtre, den Gartenarchitekten von Versailles, folgt der 1968 geborene Chef des Benrather Museums für Gartenkunst den Überlieferungen.

Zuerst beschrieb die Gärten der griechische Arzt Knidos 400 Jahre v. u. Z., zuletzt der österreichische Kunsthistoriker Jakob von Falke 1884. Doch obwohl keiner dieser Chronisten den Bau je mit eigenen Augen gesehen hatte, verfestigte sich das vollkommen fiktive Bild allmählich zu einer Realie der Weltgeschichte und zum allgemeinen Bildungsgut.

Trotz der Fülle des Bildmaterials hätte man sich gewünscht, Schweizer hätte das phantasmatische Potential des Sujets etwas stärker ausgeschöpft. Von Guido Renis Gemälde „Ninus übergibt der Semiramis seine Krone“ von 1625 bis zu Primo Zeglios Cinemascope-Reißer „Sklaven der Semiramis“ von 1964 streift er die Spuren der Figur im kollektiven Imaginären eher kursorisch.

Weder ist sicher, dass die legendäre Königin Semiramis je gelebt hat. Noch, ob wirklich sie die Gärten angelegt hat

Dabei ist Semiramis eine Projektionsfläche par excellence. Mal wird sie als wollüstige Nymphomanin gezeichnet, mal als entschlussstarke Herrscherin, die mit halbfertiger Frisur vom Schminktisch aufspringt und Babylon mit dem Schwert verteidigt. Nach Herodot regierte die Königin ganz Asien. Ein mittelalterlicher Heilsspiegel integriert sie dann wieder als Tugend-Vorbild in die christliche Ikonografie. Schweizer selbst erkennt in ihr „die Idee weiblicher Herrschaft an sich“.

Mag die Phantomfigur auch nicht die „Mutter“ der Hängenden Gärten gewesen sein. Die Idee einer gleichsam schwebenden Gegenwelt, die den Gärten, anders als den restlichen Kolossalbauten der Weltwunder, eingeschrieben war, erklärt vermutlich ihre Faszination. Vor allem natürlich heute, wo die Welt bei Strafe des Untergangs gezwungen ist, Natur und Kultur neu ins Verhältnis zu setzen. Zwar gab es schon in Renaissance und Moderne den Versuch, das antike Vorbild für neue Formen von Stadt und Wohnen zu nutzen. Zunächst sozial exklusiv mit Dachterrassen auf den adligen Stadtpalästen Italiens. Mit seinem Entwurf für einen sechsstufigen Terrassenbau verdichtete der Architekt Gottfried Semper diese Idee dann 1860 zu einem universellen Bautypus.

Endgültig zum Werkzeug des „Green Urbanism“ mutierte die dynastische Lustarchitektur, so zeigt es der Architekturjournalist Frank Maier-Solgk in einem Aufsatz, mit dem er Schweizers materialreiche Kulturgeschichte zur Gegenwart aufschließen lässt, jedoch erst im 20. Jahrhundert. Mit der Erfindung des brandverhindernden Holzzementdachs im Jahr 1839 wurde der Weg erst frei für Architekturen wie Boerris Turm in Mailand.

Am klarsten lehnt sich das Acros-Kultur- und Geschäftszentrum im japanischen Fukuoka an die nie gesehenen babylonischen Gärten an. Der 1976 eröffnete, pyramidenartige Block mit seinen 15 aufsteigenden und begrünten Terrassen läuft zu seinen Füßen in einen Park aus. Wer diesen öffentlich zugänglichen Komplex hinaufsteigt, wird zum Nutznießer eines demokratischen Versprechens: Dachterrassen für alle!

Stefan Schweizer: „Die Hängenden Gärten von Babylon. Vom Weltwunder zur grünen Architektur“. Mit einem Beitrag von Frank Maier-Solgk. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2020, 240 Seiten, 28 Euro