„Es geht nicht um zwei Klassen“

Pflege kann man in Bremen jetzt auch studieren. Ein Gespräch über einen Job, der immer komplexer wird, die Chancen der Akademisierung und den Arbeitsalltag in Zeiten von Corona

Mit einer Maske und ein paar Blumen ist es in der Pflege nicht getan Foto: Jonas Güttler/dpa

VonLotta Drügemöller

taz: Herr Zündel, seit Anfang April gestalten Sie als Beauftragter für Pflege und Gesundheit den Pflegeschwerpunkt an der Hochschule Bremen. Warum braucht es ein Studium der Pflege, tut es eine Ausbildung nicht auch?

Matthias Zündel: International ist Pflege ein Studienfach, in Deutschland dagegen sind wir bisher sehr stark auf die Ausbildung fixiert. Wir brauchen aber alle, Studierende und Auszubildende.

Aber wieso? Muss Pflege nicht das leisten, was sie immer geleistet hat – Menschen versorgen, die das selber nicht können?

Es gibt viel mehr hochkomplexe Situationen. Wegen der höheren medizinischen Versorgung haben wir mehr ältere Menschen – wenn Pflegebedürftige mehrere Medikamente parallel einnehmen, ist die Planung komplexer. Im Krankenhaus nehmen technische Elemente immer mehr Raum ein. Und weil die Zeit in der Klinik für Patienten heute sehr verdichtet ist, müssen Pflegefachkräfte schneller erkennen, was hilft; sie müssen schnell fundierte Entscheidungen treffen.

Also geht es vor allem um medizinisches Wissen?

Nicht nur. Häufiger müssen wir auch ethische Entscheidungen treffen. Wie geht man mit der Selbstbestimmung der Menschen um? Kann jemand tatsächlich noch zu Hause leben – oder schadet er sich dort selbst? Die veränderten Fragen treffen also auch Geisteswissenschaften. Wichtig ist auch der Transfer von wissenschaftlichen Erkenntnissen in die Praxis. Eine Studie muss man nicht nur verstehen, sondern auch bewerten und adaptieren können: Sind diese Ergebnisse für unsere Einrichtung relevant? Wie können wir davon etwas umsetzen? Wenn es diese Möglichkeit nicht gibt, haben wir eine große Lücke. Dann kommt Wissenschaft nie über das Stadium eines Modellprojektes hinaus.

Funktioniert der Transfer von Erkenntnissen in die Heime bisher nicht?

Wissenschaft und Praxis sind leider oft etwas getrennte Welten. Berufliches Erfahrungswissen hilft dabei, im Alltag schnell Entscheidungen zu treffen. Es ist aber auch fehleranfällig und kann sich nicht so gut selbst korrigieren. Wissenschaftliches Wissen dagegen kann man oft nicht sofort anwenden. Dafür aber ist man damit in der Lage, an neue Situationen zu adaptieren, zu reflektieren. Die Praxis muss umgekehrt auch der Wissenschaft zurückspiegeln: das, was ihr euch überlegt habt, funktioniert – oder eben auch nicht.

In gut zwei Jahren kommen die ersten Bachelor-Absolvent*innen in die Heime und sagen denen dort, was sie anders machen können. Kann das klappen?

Das ist nicht immer einfach. In den Praxisphasen erleben die Studierenden, dass es Ängste gibt und Widerstand, aber auch Pflegefachkräfte, die sagen „Super, dass ihr da seid“. Wichtig ist, dass sich die Einrichtungen vorab Gedanken gemacht haben, was sie von den Absolvent*innen wollen.

Was erwartet sie denn? Was bietet der Bremer Pflegestudiengang?

Er ist der erste, der nach dem neuen Pflegeberufegesetz arbeitet; wir bekommen häufig Anfragen, wie wir unseren Lehrplan gestaltet haben. Gerade haben wir eine Professorin der Pflegewissenschaft mit Palliativschwerpunkt eingestellt. Im Herbst beginnt die Professur für Hebammenwissenschaft. Weitere Professuren sind bereits ausgeschrieben, beispielsweise für Pflegediagnostik. Außerdem arbeiten wir als einzige in Deutschland international: Alle Studierenden machen ein Auslandssemester. So sehen sie, dass ein Studiengang Pflege anderswo die Regel ist. Ich schaue aber bei der Konzeption nicht nur, was die Studierenden brauchen. Die Frage ist auch: Was braucht Bremen gerade.

Foto: Hochschule Bremen

Matthias Zündel, ist ausgebildeter Krankenpfleger und seit 2014 Professor für Gesundheits- und Pflegemanagement an der Hochschule Bremen

Und was braucht denn Bremen gerade?

Wenn junge Menschen ihre Ausbildung oder ihr Studium in der Pflege anderswo machen, sind die danach weg. Die verlieben sich, haben eine tolle WG, oder finden einfach die Stadt gut. Wir müssen sie hier halten. Ein Gesundheitscampus als Ort, an dem es Austausch gibt zwischen Studierenden, Lehrenden und Leuten aus der Praxis, kann überregional Strahlkraft entfalten.

Ein Studium hat besondere Zugangsvoraussetzungen. Besteht nicht die Gefahr, dass sich der Fachkräftemangel verstärkt, wenn die Akademisierung zunimmt?

Ich glaube, dass man über unterschiedliche Zugänge im Gegenteil mehr Leute erreicht. Die meisten, die jetzt bei uns Pflege studieren, hätten sich für die Ausbildung nicht entschieden; viele, die Abitur haben, wollen auch studieren. Auffällig ist bisher, dass es einen höheren Männeranteil gibt – auch wenn man nach einem Semester natürlich keine großen Schlüsse daraus ziehen darf.

Gibt es die Gefahr einer Zwei-Klassen-Gesellschaft in der Pflege?

Es geht nicht um zwei Klassen, sondern um unterschiedliche Zugänge. Der angedachte Gesundheitscampus soll auch Fachschulen und Weiterbildungsträger integrieren. Durch die Verzahnung und den gemeinsamen Ort erhöht sich die Bildungsdurchlässigkeit: Eine Fachkraft kann sich einfach fortbilden, mit Zertifikat – oder auf ihre Ausbildung noch ein Masterstudium satteln.

Das zweite Semester hat durch Corona unter schwierigen Bedingungen gestartet.

Wir haben für das Sommersemester fast alles auf digital umgestellt. Trotzdem versuchen wir Begegnungsorte zum Lernen zu schaffen, mit Diskussionsforen und Videokonferenzsystemen. Wie die neunwöchigen Praxiseinsätze in den Kliniken dieses Semester laufen, darüber müssen wir noch sprechen. Wir können zur Zeit nur auf Sicht fahren.

Corona stellt auch an die Pflege neue Herausforderungen. Wo sehen Sie da Ihre Rolle?

„Die Krise zeigt uns gerade viele Probleme, die sowieso da sind, noch etwas schärfer auf“

Aktuell gibt es einen Möglichkeitsraum, neu zu denken. Hochschule kann das leisten, wir bringen Ideen zusammen. Ich habe gerade 450 Leute angeschrieben und um ihre Zukunftsgedanken gebeten, das sind Expertinnen und Experten aus dem Gesundheitsbereich und der Pflege, aus dem Management von Einrichtungen und aus Politik und Verbänden. Diese Menschen sollen uns in fünfminütigen Videos erzählen, wie ihre Vision von Pflege nach Corona aussieht. Alle Videos lassen wir von anderen Experten kommentieren, später soll in einer Livestreaming-Konferenz weiter diskutiert werden, auch per Livechat. Die Ergebnisse dieser Schwarm­intelligenz werden am Ende in einem Bremer Memorandum zur Zukunft der Pflege veröffentlicht.

Gibt es schon Antworten? Worum geht es in den Videos?

Wir sichten die ersten Materialien gerade, natürlich geht es um die langfristige Sicherung der Attraktivität des Berufs, etwa über höhere Löhne oder andere Arbeitszeitmodelle. Es wird aber auch da­rüber nachgedacht, wer mit welcher Kompetenz künftig welche Aufgaben übernehmen könnte. Alle Videos sind bislang sehr authentisch und spannend. Das macht wirklich Spaß.

Manche Pflegeheime scheinen gerade überfordert. Was muss sich tun, damit Einrichtungen Corona in den Griff bekommen?

Natürlich stehen Heime vor einer großen Herausforderung. Ganz neu ist die Situation aber nicht, die Einrichtungen kennen ja zum Beispiel den Umgang mit dem Noro-Virus. Wie gut die Hygienemaßnahmen funktionieren, hat etwas mit der Quote der Fachkräfte zu tun. Die Rothgang-Studie [Studie des Bremer Gesundheitsökonomen Heinz Rothgang; Anmerkung der Redaktion] empfiehlt einen Skills-Mix in der Langzeitpflege – dass also Fach- und Hilfskräfte zusammenarbeiten. Ich halte das per se für sinnvoll – aber es muss sichergestellt sein, dass auch die Hilfskräfte eine Qualifizierung von ein bis zwei Jahren bekommen. Das hat Auswirkungen darauf, wie ich mit hygienischen Vorgaben umgehen kann. Die Krise zeigt uns gerade viele Probleme, die sowieso da sind, noch etwas schärfer auf.