Buch über Berlin in 1930ern: Lebenswege zum Abgrund
In biografischen Porträts zeichnet der Germanist Peter Walther die Stimmung in Berlin in Zeiten des politischen Untergangs nach – eine Mahnung.
In Spuckweite voneinander entfernt saßen sie im Berliner Zeitungsviertel der südlichen Friedrichstadt, Ende der 1920er Jahre: Die Rote Fahne, das Zentralorgan der KPD, seit 1926 die Berliner Gauleitung der NSDAP um Joseph Goebbels und später auch das Propagandablatt Der Angriff. Die Hedemannstraße war eine ideologische Kampfzone, sie wurde zu dem Ort, von dem aus Goebbels das bis dato „rote Berlin“ für seine Partei gewinnen sollte.
Hier war die Hitze schon zu spüren, von der Peter Walther in „Fieber. Universum Berlin 1930–1933“ schreibt. Die steigende Temperatur, das Brodeln, das bis zur finalen Kapitulation des Immunsystems führt, bei der Machtergreifung durch Adolf Hitler.
Peter Walther: „Fieber. Universum Berlin 1930-1933“. Aufbau Verlag, Berlin 2020, 364 Seiten, 22 Euro
Berlin war in den 1920er Jahren eine weltoffene Stadt, ein Zufluchtsort für viele. Was hier vibrierte, was diesen Ort besonders machte, dem spüren heute Serien wie „Babylon Berlin“ oder der Podcast „1929 – Das Jahr Babylon“ nach: Freizügigkeit, Drogen, Nachtleben, Tanz in Gleichzeitigkeit mit Straßenkämpfen, politischen Morden, unverbesserlichen Alteliten, Aufständen und Umsturzversuchen. Walther, Co-Leiter des Brandenburgischen Literaturbüros in Potsdam, löst sich in seinem Buch etwas von dieser übergroßen Erzählung der Stadt und steigt in die Details ein.
Im ersten Teil wählt Walther einen biografischen Zugang. Er erzählt den Lebenswandel einzelner Figuren, wie zum Beispiel Heinrich Brüning, Zentrumspolitiker und Reichskanzler von 1930 bis 1932; Maud von Ossietzky, Frauenrechtlerin und Lebensgefährtin des Schriftstellers Carl von Ossietzky; Erik Jan Hanussen, eigentlich Hermann Chajm Steinschneider, Hellseher, spiritueller NSDAP-Flüsterer und Hitler-Sympathisant oder Dorothy Thompson, US-Journalistin, die 1932 Hitler interviewen durfte und zu der Einschätzung kam, der Mann sei ein unwichtiger Haufen. Zu viele dachten das, auch zu viele konservative Politiker dieser Zeit, die sich ganz großmännisch sicher waren, man könne ihn schon einhegen.
Fieberschübe
In diese biografischen Stücke zieht Walther die Leser*innen zumeist gut rein. Man taucht ein in Lebenswelten und kann nachvollziehen, was die Leute dazu bewegt hat zu werden, was sie schließlich wurden. Entlang dieser Biografien erzählt Walther auch die politischen Verflechtungen in der Weimarer Republik, die Einflüsse von außen und die „Fieberschübe“ der 1920er Jahre, die Gewalt und die Putsch- und Aufstandsversuche Links- wie Rechtsradikaler.
An ein, zwei Stellen wirken die biografischen Erzählungen etwas stakkatohaft aneinandergereiht, ist aber vermutlich der Notwendigkeit geschuldet, historisch korrekt zu bleiben und den einzelnen Charakteren gerecht zu werden, ihnen den nötigen Raum zu geben.
Im zweiten Teil des Buches verdichten sich die Ereignisse, grob eingerahmt vom New Yorker Börsencrash 1929 und Hitlers Ermächtigungsgesetz im März 1933. In dieser Phase überkreuzen sich die Pfade der Figuren lose. Walther gelingt es hier, die „großen Männer und Frauen“ mit den Lebenswegen und Entscheidungen randständiger Figuren zu verweben.
So tritt auch die Haushälterin der Familie Schleicher auf, die den letzten Reichskanzler vor Hitler stellte, Kurt von Schleicher. Ihr Auftritt ist allerdings kurz, denn, aus Schwermut für die Welt, in der sie lebt, ertränkt sie sich im Heiligen See zu Potsdam.
Geschichte wiederholt sich nicht
Dieses Buch weist uns darauf hin, wie extrem wichtig es auch heute ist, Faschist*innen und Rechtsextremen genau auf die Finger zu schauen. Die Mechanismen, die in „Fieber. Universum Berlin 1930–1933“ politisch und gewaltvoll auf der Straße greifen, lassen sich vielleicht nicht 1:1 auf heute übertragen, Geschichte wiederholt sich nicht. Aber sie kommt modifiziert zurück, manchmal als Wiedergängerin.
Grandios wurden Hitler und seine Truppe teilweise unterschätzt, aus Überlegenheitsgefühlen konservativer Politiker*innen, aus der Fehleinschätzung internationaler Journalist*innen. Gut, dass sich in diesem Land ein Konsens hält, dass die Höckes und Kalbitzes dieser Welt beobachtet werden müssen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bundestag bewilligt Rüstungsprojekte
Fürs Militär ist Kohle da
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Kürzungen im Berliner Haushalt
Kultur vor dem Aus
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
BSW-Chefin im ZDF
Wagenknecht räumt Irrtum vor russischem Angriff ein
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren