Roman „Ich an meiner Seite“: Hauptfigur des eigenen Lebens
Die Bachmannpreis-Trägerin Birgit Birnbacher erzählt von Menschen, die vor allem funktionieren sollen. Mit bitteren Pointen.
Manche Freiheit ist gar keine. 26 Monate hat Arthur im Gefängnis verbracht, und kaum ist er entlassen, steht der junge Mann wieder vor verschlossenen Türen. Ohne Arbeit gibt es kein regelmäßiges Einkommen und damit keinen Mietvertrag.
Wahrscheinlich würde Arthur, der gerade mal 22 Jahre alte Antiheld, nach kurzer Zeit wieder kriminell werden, wenn es nicht die Bewährungshilfe, ein Wohnprojekt für Haftentlassene und den unkonventionellen Therapeuten Konstantin Vogl gäbe: „Um Theorie scherte er sich immer nur exakt so viel, wie es eben unbedingt notwendig war. Den ganzen Rest bestritt er mit Versuch und Irrtum, mit Intuition und Inbrunst, mit dem Willen, wirklich etwas zu bewegen.“
Zum Ansatz, den Vogl entwickelt hat, gehört das „Schwarzsprechen“. Arthur soll Tonaufnahmen an den Therapeuten schicken, mit Erzählungen von sich, er soll hineinschauen in die biografische Dunkelheit. Aus Arthurs Anekdoten möchte Vogl, den sie liebevoll Börd nennen, eine „Optimalversion“ seines Schützlings entwickeln, eine „Hauptfigur“ an Arthurs Seite, die ihm in Krisen Orientierung bieten kann.
„Sie sollen sich über diese Figur dermaßen klar werden“, sagt Börd, „dass Sie sie in brenzligen Situationen ‚spielen‘ können, in sie hineinschlüpfen. Sich über etwas hinwegretten, indem Sie so tun, als wären Sie diese Version von sich, die bessere, die weichgezeichnete, die klügere. Und deshalb nicht straffällig werden.“
Bittere Pointen
Birgit Birnbachers Roman mit dem so treffenden Titel „Ich an meiner Seite“ hält zahlreiche bittere Pointen bereit, etwa über die Sinnlosigkeit von Gefängnisstrafen und die Mühen der sogenannten Resozialisierung. Doch die Autorin schreibt nicht nur klug und kenntnisreich über das System der Bewährungshilfe, sie überführt die therapeutische Theorie auch beeindruckend kunstvoll in Literatur.
Allein die spiegelbildliche Anlage und Entwicklung der Figuren überzeugen. Während sich Arthur immer mehr jener fiktiven Hauptfigur annähert, also dem optimalen Ich an seiner Seite, degradiert sich Dr. Vogl alias Börd zur Nebenfigur im eigenen Leben – als wolle er beweisen, dass seine Therapie auch in die umgekehrte Richtung funktioniert.
Die Literatur der 1985 im österreichischen Schwarzach geborenen Schriftstellerin Birgit Birnbacher ist wirklichkeitsgesättigt, ohne sich einem einfachen Realismus zu verschreiben. Selten verlaufen die Lebensläufe ihrer Figuren geradlinig; simple Schuldzuschreibungen finden sich in dieser gut durchgearbeiteten Prosa nie. Vielmehr geht es darum, soziale, politische und emotionale Widersprüche offenzulegen.
In diesem Fall lohnt durchaus ein Blick in die Vita der Schriftstellerin: Birnbacher brach ihre Schulausbildung ab, machte eine Lehre und arbeitete im Rahmen der Entwicklungshilfe in Äthiopien und Indien. Später holte sie ihr Abitur nach und studierte Soziologie. Von der Theorie ging es wieder in die Praxis der Sozialarbeit, und tatsächlich prägen diese beruflichen Erfahrungen auch ihre literarischen Texte. Birnbacher erzählt in ihrer vielfach ausgezeichneten Prosa von jenen Menschen, die „ganz unten“ sind oder zu sein scheinen.
Im vergangenen Jahr gewann sie beim Klagenfurter Wettlesen den renommierten Bachmannpreis mit einer Geschichte über prekäre Wohnverhältnisse. Ihr neuer Roman „Ich an meiner Seite“ ist keineswegs die lange Version dieser preisgekrönten Erzählung, sondern ein eigenständiges Werk, in dem die Autorin ihren nahezu soziologischen Stil weiterentwickelt, der immer auch eine existenzphilosophische Dimension aufzeigt.
Identität ist die Summe deiner Entscheidungen
Arthur nämlich ist ein in die Welt Geworfener, einer, der frei nach Sartre erst begreifen muss, dass seine Identität auch die Summe seiner Entscheidungen ist, so unmenschlich die Umwelt sich ihm gegenüber verhält. Arthur wird als defensiver Charakter beschrieben, der erst aktiv wird, wenn es gar nicht mehr anders geht. Mit dieser Haltung wird er auch in die „Hauptfigurentherapie“ einsteigen. Er hat schlichtweg keine andere Wahl, wenn er eine zweite Chance haben will.
Also beginnt er mit den autobiografischen Aufzeichnungen, die für den Roman eine wichtige Erzählebene, quasi eine authentische Audioquelle darstellen: „Eins, zwei, check. Funktioniert das überhaupt? Arthur Galleij für Doktor Vogl, Aufnahme eins oder so, check. (…) Das Aufwachsen also, haben Sie gesagt. Darüber soll ich sprechen. Dann sagen wir 1988. (…) Viel weiß ich eigentlich nicht aus dieser Zeit. So einzelne Geschichten, mit denen man später seine Herkunft erzählt.“
Birgit Birnbacher: „Ich an meiner Seite“. Zsolnay Verlag, Wien 2020, 269 Seiten, 23 Euro
Birnbacher kontrastiert die Aufnahmen mit Passagen einer allwissenden Erzählerin, die ihre Figuren behutsam, aber immer auch mit gewisser Radikalität führt. Arthur, so erfahren wir aus den sich ergänzenden Perspektiven, wächst ohne leiblichen Vater auf, und Georg, der neue Freund von Mutter Marianne, spricht im Grunde nie mit Arthur und seinem Bruder Klaus, sondern immer nur über sie, man könnte auch sagen: an ihnen vorbei.
Kleine und große Verluste prägen Kindheit und Jugend der Protagonisten. Georg und Marianne beschließen, nach Spanien auszuwandern und ein Hospiz zu gründen. Das Geschäft mit den Sterbenskranken bedeutet wirtschaftliche Sicherheit für die beiden, für Arthur ist der Wegzug von Freunden vor allem mit einem Gefühl der Fremdheit verbunden.
Kuriose Dreiecksbeziehung
Bruder Klaus fremdelt noch viel deutlicher, schließt sich im Zimmer ein, verweigert die Kommunikation und verlässt schließlich die Familie. Bald versucht auch Arthur, eigene Wege zu gehen, lässt sich auf eine kuriose Dreiecksbeziehung ein, die durch einen tödlichen Unfall aufgelöst wird.
Weil die Mutter sich nicht um den Sohn kümmert, muss Arthur seine fundamentale Lebenskrise allein bewältigen. Er flieht vor den traumatischen Erlebnissen, kehrt zurück nach Österreich und landet in Wien, allerdings ohne einen Plan, das Leben in der Großstadt zu finanzieren. Erst spät im Roman erfahren wir, welche Straftaten Arthur begeht, und daher sollen diese tatsächlich interessanten Details nicht verraten werden – zumal der Text von einer geschickten Spannungsdramaturgie lebt.
Gerade haben wir noch übers Arthurs Therapiegespräch geschmunzelt, lesen wir auch schon eine drastische Gefängnisszene. Die Gewalt im Gefängnis wird Arthur noch verfolgen, als er längst nicht mehr eingesperrt ist. Schweißausbrüche und Selbstzweifel sind die Folge. Arthurs einziges Glück ist eine todkranke Frau namens Grazetta, die Arthur noch im elterlichen Hospiz in Spanien kennengelernt hat. Sie ist nach Wien gezogen, um die letzten Lebenstage im eleganten Hotel Bristol zu verbringen.
Finstere Bühne des Lebens
Grazetta kennt sich mit Hauptrollen bestens aus, da sie mal erfolgreiche Schauspielerin war. Diese Lichtgestalt auf der finsteren Bühne des Lebens wird Arthur nicht nur ein wertvolles Kuvert hinterlassen, sondern ihm auch das Gefühl geben, dass nach einer missglückten Vorstellung durchaus eine bessere folgen kann, dass Auftritt und Abgang mit Würde zu gestalten sind und manchmal auch das Theaterstück umgeschrieben werden muss.
Mit dieser starken Botschaft könnte der Roman enden, aber Birgit Birnbacher ist eine Künstlerin der literarischen Volte, und so überrascht sie bis zur letzten Seite, indem sie kurz vor Schluss alle Muster im Textgewebe noch einmal durcheinanderbringt. Es bleibt vieles offen, nicht nur für Arthur, sondern auch für die Interpretation seiner Geschichte.
Gesellschaftliche Verhältnisse aber, in denen ein Absturz wie der von Arthur möglich ist, sind weder human noch frei zu nennen. So entwickelt sich aus dem soziologisch-literarischen Blick der Autorin eine überzeugende Anklage gegen eine Gesellschaft, die aus Menschen vor allem funktionierende Wirtschaftssubjekte machen will.
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