Die Wahrheit: Exponentielles Wachstum
Wenn die Größe eines Menschen links und rechts unterschiedliche Maße ergibt, wird es nicht nur beim Hosenkauf schwierig.
V on vielem habe ich ja keine Ahnung, etwa wie Surfen geht. Aber bei exponentiellem Wachstum bin ich geborener Experte. Ich bin nämlich praktisch zwei Meter groß. Na gut, 1 Meter 98 steht im Personalausweis, aber die Größe gilt nur für links, rechts kommen noch zweieinhalb Zentimeter dazu. Und das kommt vom exponentiellem Wachstum.
Mit sechs Jahren bin ich nämlich mit dem Schlitten vor einen Baum gebrettert und habe mir den rechten Oberschenkel gebrochen. In den frühen Sechzigern kam auf dem Dorf nicht gleich ein Krankenwagen; erst mal wurde ich von der hilfsbereiten Dorfjugend auf einem Schlittengespann wie ein waidwundes Rehkitz nach Hause transportiert. Erst Stunden später wurde ich mit einem Taxi halb sitzend ins Krankenhaus gefahren. Dort war der Knochen schon wieder zusammengewachsen, nur leider schief, und musste noch einmal gebrochen werden. Als ich nach acht Wochen aus dem Streckverband rausgelassen wurde, war das Bein über zwei Zentimeter länger. Seither stehe ich schief.
Am problematischsten war das später beim Hosenkauf. Entweder hatte ich rechts Hochwasser oder links ein Krumpelbein. Anfangs musste ich sowieso die Hosen meines vier Jahre älteren Bruders auftragen. Das war günstiger. Als ich ihn dann trotz des Altersunterschieds größenmäßig überholte, konnte er die Hosen wieder tragen. Das war noch günstiger.
Aber als ich mir die ersten eigenen Hosen kaufen durfte, wurde es ganz schlimm. Die Hosen, die ich mir morgens kaufte, waren mir am Abend schon wieder zu kurz. Hochwasser war mein ständiger Begleiter, sodass ich modisch am Rande der Gesellschaft stand. Und alles nur wegen dieses blöden exponentiellen Wachstums.
Gleichzeitig war es aber auch die erfolgreichste Zeit meines Lebens, genauer die zwei Jahre in der C-Jugend. Da ich schon fertig ausgewachsen war und selbst die gegnerischen Torhüter um gleich mehrere Köpfe überragte, war jeder Eckball für uns praktisch ein Tor; unser Rechtsaußen konnte nämlich hohe, perfekte Flanken schlagen. Nicht mal hochschrauben musste ich mich. Das ging so lange gut, wie ich noch gucken konnte. Denn dann wurde ich über Nacht kurzsichtig. Die Dioptrien wuchsen gleichfalls exponentiell. Ab da sah ich die Bälle entweder nicht oder ich musste mit Brille köpfen. Das hat furchtbar geautscht.
Mein Schiefstand wurde erst bei der Musterung exakt ermittelt. Leider fehlte mir zur Untauglichkeit ein halber Zentimeter, so wie ich wegen Untergewichts auch ein halbes Kilo zu viel drauf hatte. Ohne Frühstück wäre ich untauglich gewesen!
Wenn ich also einen Rat geben kann, dann den, auf exponentielles Wachstum zu verzichten. Durch meine Größe habe ich nämlich manche Menschen arg erschreckt. Wie das kleine Mädchen, das im Zug aus dem Abteil herauslugte, die Tür wieder entsetzt zuschlug, aber hörbar zu seiner Mutter sagte: „Mama, da kommt was auf uns zu!“ Zu viel Wachstum ist eben Mist!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
USA
Effizienter sparen mit Elon Musk
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
Übergriffe durch Hertha-BSC-Fans im Zug
Fan fatal
Debatte um Termin für Bundestagswahl
Vor März wird das nichts
Öl-Konzern muss CO₂-Ausstoß nicht senken
Shell hat recht