: Die soziale Alternative
Wer Arbeitsplätze schaffen will, muss die unteren und mittleren Einkommen entlasten – und Spitzensteuer wie Mehrwertsteuer anheben. In Skandinavien klappt das wunderbar
Erst müssen die Schweden 25 Prozent Mehrwertsteuer bezahlen und dann noch 55 Prozent Spitzensteuersatz. Schlimmer noch: Fast alle müssen arbeiten – sogar 80 Prozent der Frauen –, meist Vollzeit, so dass die Kinder von klein auf in Kitas kommen. Die älteren Kinder werden in ganztägige Gemeinschaftsschulen gesteckt und notfalls sogar einzeln so bearbeitet, dass 70 Prozent die Hochschulreife machen müssen. Warum quälen die Schweden ihre BürgerInnen nur so?
Diese Frage ist berechtigt, zumal es bei uns zum schwedischen Modell stets heißt: Konjunkturbremse, unsozial, schadet dem Mittelstand, vernichtet Arbeitsplätze. Noch immer wird so getan, als seien zu hohe Steuern unser Problem.
Die drei skandinavischen Länder Dänemark, Schweden und Finnland zeigen das Gegenteil. Mit Staatsquoten von über 50 Prozent und einem doppelt so hohen Anteil der Steuern am Bruttosozialprodukt gehören sie laut Weltwirtschaftsforum zu den fünf wettbewerbsfähigsten Staaten der Welt. In allen drei Ländern ist in den letzten Jahren die Arbeitslosigkeit fast auf die Hälfte gefallen, während sie sich in Deutschland fast verdoppelte.
Entscheidend ist nämlich nicht die Steuerquote. Was die skandinavischen und die angloamerikanischen Länder gemeinsam haben, ist die niedrige Belastung der einfachen Arbeit. Das IfW (Institut für Weltwirtschaft) in Kiel hat kürzlich darauf hingewiesen, dass unsere Sozialabgaben längst Steuercharakter haben. Bei uns zahlen selbst niedrige Einkommen oberhalb der Midi-Job-Grenze 42 Prozent ohne Steuerfreibetrag und ohne Progressionszone. Facharbeiter kommen locker auf eine Abgabenquote von 50 Prozent, Frauen mit Steuerklasse 5 liegen selbst bei geringen Einkommen meist über 60 Prozent.
Also: Unsere Sozialabgaben sind eine Strafsteuer auf Arbeit. Die Hauptlast unseres Sozialsystems tragen die unteren und mittleren Einkommen, während Beamte, Selbstständige und die 10 Prozent gut Verdienenden von der Finanzierung unseres Sozialsystems befreit sind.
Deshalb sollte man für die Sozialversicherungen einen Freibetrag und eine Progressionszone einführen – ohne Leistungskürzung – und dies durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer finanzieren. Dadurch würden nicht nur die Mini- und Midi-Jobs überflüssig. Der Anreiz zu Schwarzarbeit im unteren Einkommensbereich würde stark reduziert, da man ja weniger Abgaben bezahlt und trotzdem Rentenansprüche erwirbt.
Zur Finanzierung dieses Modells sollte sowohl die erhöhte Mehrwertsteuer als auch die Erhöhung des Spitzensteuersatzes eingesetzt werden. Eine solche Kombination könnte bei einer Erhöhung der Mehrwertsteuer um 5 Prozent verbunden mit dem Übergang auf die Bürgerversicherung nach meinen Berechnungen eine Senkung der Sozialabgaben um 9 Punkte oder 21 Prozent bewirken.Wenn man diese Senkung der Lohnnebenkosten gezielt auf die unteren und mittleren Einkommen konzentriert, würde das endlich einen wirklich merkbaren Schub auf dem Arbeitsmarkt bewirken.
Eine solche Reform zielt genau auf die Arbeitsplätze der unteren Einkommen, die durch die Globalisierung besonders bedroht sind. Dies ist eben der Bereich, in dem – das zeigen die Erfahrungen aus anderen Ländern – die benötigten Millionen Arbeitsplätze entstehen können. Denn weder Großbritannien, die USA noch Skandinavien haben mehr Arbeitsplätze in der Industrie und im Export – wohl aber im Dienstleistungssektor.
Was hat es nun aber mit den Gegenargumenten auf sich?
Behauptung 1: Die Mehrwertsteuer ist sozial ungerecht.
Im Vergleich zu einer progressiven Einkommensteuer stimmt das. Aber im Vergleich zu Sozialversicherungsbeiträgen stimmt das nicht. Denn die Sozialversicherungsbeiträge treffen nur die unteren und mittleren Einkommen – die oberen Einkommen sind heute freigestellt. Dagegen ist Mehrwertsteuer sozial gestaffelt: Die Miete, die 40 Prozent der Ausgaben der unteren Einkommen ausmacht, ist mehrwertsteuerfrei. Der zweite große Ausgabenbereich, Lebensmittel und öffentlicher Nahverkehr, unterliegen einem reduzierten Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent – und das soll so bleiben.
Hier kann man zusätzlich überlegen, ob man einen dritten erhöhten Mehrwertsteuersatz für Luxusgüter einführt und eventuell dafür den reduzierten Mehrwertsteuersatz leicht senkt.
Behauptung 2: Das dämpft die Konjunktur.
Das stimmt nur, wenn das Geld vom Staat vereinnahmt wird. Wenn aber die Mehrwertsteuererhöhung eins zu eins zu einer Senkung der Lohnnebenkosten führt, dann fließt das Geld wieder in den Konsum.
Behauptung 3: Das trifft die Dienstleistungen und die kleinen Betriebe.
Dies ist eindeutig falsch. Dienstleistungen und Handwerk haben die höchsten Personalkostenanteile und keine hohen Einkommen. Deshalb profitieren sie von den niedrigeren Lohnnebenkosten überproportional.
Behauptung 4: Es kommt zu einer Inflation, die sozial Schwache belastet.
Ob die Mehrwertsteuererhöhung tatsächlich auf die Preise aufgeschlagen wird, ist in der Wissenschaft umstritten. Immerhin sparen die Betriebe ja bei den Lohnnebenkosten. Falls es doch zu einem Preisaufschlag kommt, dann muss für Alg II und Bafög ein Inflationsausgleich erfolgen. Alle sozialversicherten Beschäftigten dagegen haben höhere Nettolöhne durch die sinkenden Sozialbeiträge.
Behauptung 5: Das schadet der Exportwirtschaft.
Das Gegenteil ist der Fall. Gerade die Mehrwertsteuer ist globalisierungsfest. Sie ist die einzige Steuer, bei der Exporte steuerfrei sind, die Importe aber voll mitversteuert werden. Bei den Lohnsteuern ist es umgekehrt. Die Exporte werden belastet, nicht aber die Importe. Deshalb ist die Mehrwertsteuer im internationalen Standortwettbewerb ein Konkurrenzvorteil.
Behauptung 6: Eine Steuererhöhungsdiskussion kann sich keine Partei leisten.
Die CDU tut es trotzdem. Aber sie braucht die Mehreinnahme erst mal zur Finanzierung ungerechter Maßnahmen: der Senkung des Spitzensteuersatzes und der Kopfpauschale. Stattdessen sollten alle vorhandenen Mittel zur Senkung der Lohnnebenkosten eingesetzt werden.
Es lohnt sich nicht nur, die Diskussion über das skandinavische Modell zu führen. Es gibt gar keine andere Möglichkeit, wenn wir in Zeiten der Globalisierung unseren Sozialstaat erhalten wollen. Weder Linkspartei noch SPD haben eine Antwort auf das neoliberale Merkel-Thatcher-Modell. Nur deswegen wollen viele in ihrer Verzweiflung die Union wählen. Das skandinavische Modell ist die einzige Alternative zum angloamerikanischen Neoliberalismus.
Wenn wir nicht wollen, dass noch mehr unserer jungen Meister, Ärzte und Ingenieure nach Skandinavien, England oder in die USA auswandern, dann wird es Zeit, dass wir die Alternative forcieren, um in die festgefahrene Diskussion in Deutschland Bewegung zu bringen.
KARL-MARTIN HENTSCHEL
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