taz🐾thema
: beruf + qualifikation

die verlagsseite der taz

Lesestrategie „Worterkennung“

Leseschwachen Kindern kann es helfen, Wörter auf Basis der in ihnen enthaltenen Silben zu erlernen

Der Aufschrei vor zwei Jahren war groß, als eine Studie vorgestellt wurde: „Jedes fünfte Kind kann nicht richtig lesen“, titelten die Tageszeitungen. Hintergrund war die Veröffentlichung der jüngsten Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung – kurz IGLU. Beim Test des Lesevermögens von Schüler*innen der 4. Jahrgangsstufe im internationalen Vergleich kam heraus, dass 18,9 Prozent – also fast ein Fünftel – der Viertklässler in Deutschland nicht richtig lesen können und sich darum auch damit schwertun, schriftliche Text zu verstehen. Und wer in diesem Alter noch nicht lesen kann, hat es später oft auch Beruflich schwer.

Für die Wissenschaft ist eines inzwischen klar: „Ein wesentlicher Faktor für schwache Leseleistungen im Grundschulalter sind Schwierigkeiten in der Worterkennung“, sagt Tobias Richter, Professor für Pädagogische Psychologie an der Julius-Ma­ximilians-Universität Würzburg (JMU). „Die betroffenen Schülerinnen und Schüler müssen sich Wörter mühsam und fehleranfällig Buchstabe für Buchstabe erarbeiten, anstatt sie als Ganzes zu erkennen.“

Nur wer in der Lage ist, ein beliebig zu lesendes Wort schnell in seiner Gesamtheit zu erkennen, kann einen Satz einigermaßen zügig lesen und somit auch inhaltlich als Ganzes erfassen. Solange jedes Wort mühselig Buchstabe für Buchstabe zusammengeklaubt werden muss, geht das nicht. Ein Weg dahin sind Lesestrategien, bei denen Wörter auf Basis der darin enthaltenen Silben gelesen werden – statt sich buchstabenweise durchzuarbeiten.

Bei der Frage nach den Ursachen der Leseschwäche vieler Kinder fällt ein Befund der IGLU-Studie auf: In kaum einem anderen Land liegen die Leistungen von Kindern aus bildungsnahen und bildungsfernen Familien so weit auseinander wie in Deutschland. Auch sind die Lehrer*innen nur ungenügend für das Lesetraining einer zunehmend heterogenen Schülerschaft geschult. Dazu kommt, dass immer weniger Kinder in ihrer Freizeit lesen – was auch etwas mit der ständigen Verfügbarkeit von Handys oder Tablets zu tun hat.

Hier setzt ein Projekt von Professor Tobias Richter und JMU-Kolleg*innen an: eine vom ­­­Bundesbildungsministerium mit 660.000 Euro finanzierte mobile App für Kinder ab der zweiten Klasse, die ein wissenschaftlich fundiertes digitalisiertes Lesetraining beinhaltet. Das Training, das individuell an den jeweiligen Stand der Leseleistung des Kindes anpassbar sein soll und spielerische Elemente enthält, konzentriert sich auf die Worterkennung und nutzt dabei die Silbe als zentrale Einheit. Bis die App zur Anwendung zur Verfügung steht, wird es laut Richter ab noch etwa drei Jahre dauern.

So lange müssen herkömmliche analoge Ansätze helfen – etwa das Heranführen von Kindern an Bücher durch ehrenamtliches Vorlesen, wie sie die Stiftung Lesen in ihrem Programm „Netzwerk Vorlesen“ vermittelt. Freiwillige Vorleser werden weiter gesucht. Infos unter: www.stiftunglesen.de. OS