Warten auf den Tag X

Jeden Tag müssen sich Pflegeeinrichtungen derzeit auf neue Umstände einstellen. Was droht, wenn der Krankenstand steigt, bereitet vielen Sorge und einige fühlen sich gerade von der Politik alleingelassen

Zeichnung: Imke Staats

Von Lotta Drügemöller

Caroline S.* ist Hauswirtschaftsleiterin in einem kleinen Pflegeheim in einer Gemeinde in Niedersachsen. Momentan ist sie vor allem damit beschäftigt, das Lager für Pflege- und Hygieneartikel auszustatten. Regelmäßig bestellt sie Desinfektionsspray. „Mal bekomme ich fünf, mal zehn Flaschen. Na, immerhin“, sagt sie. Obwohl sie das Heim damit besser ausgestattet glaubt als manche Hausarztpraxis, sind die Mitarbeiter*innen aufgerufen, am Desinfektionsmittel zu sparen – schließlich hilft auch Händewaschen gegen den Coronavirus. „Jahrelang haben wir gesagt: Desinfizieren ist besser als Waschen, weil es die Haut schont“, so S. „Und jetzt waschen wir uns hier einen Wolf.“

Auch in Bremer Pflegeheimen müssen die Mitarbeiter*innen ihren Alltag umstrukturieren. Auch hier bereitet man sich auf den Ernstfall vor: Was passiert, wenn zum Beispiel das Personal knapp wird, was passiert, wenn sich viele Heimbewohner auf einmal infizieren? Gabriele Nottelmann ist zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit bei der Bremer Stiftung Friedehorst, die unter anderem Pflegeeinrichtungen für Alte und für Menschen mit Behinderung betreibt. Seit sich der Coronavirus ausbreitet, müssen sich die Heime und ihre Mitarbeiter*innen fast täglich auf neue Situationen einstellen: die Schließung der Schulen und Kitas, die Schließung der Tagespflegeangebote für Senior*innen, das Besuchsverbot in Alten- und Pflegeheimen, das in Bremen seit Mittwoch in Kraft ist. Nicht über alle beschlossenen Maßnahmen werden Einrichtungen wie die der Stiftung Friedehorst direkt von den Behörden informiert. Es gilt gewissermaßen ein Art Hol-Schuld seitens der Heime. Das Informationssystem beruht also eher auf Eigeninitiative, sagt Nottelmann. Sie selbst verfolgt die Medienberichterstattung, schaut sich live übertragene Pressekonferenzen an und beobachtet die Entwicklungen der Bremer Allgemeinverfügungen, „wie im Live-Ticker“.

Informationen sind ein großer Teil der derzeitigen Krisenbewältigung – auch und vielleicht gerade in den Pflegeeinrichtungen, leben hier doch viele Menschen, die zur Risikogruppe gehören. Die unterschiedlichen Einrichtungen der Stiftung Friedehorst beherbergen aber nicht nur alte Menschen, sondern auch Menschen mit geistiger Behinderung, die teilweise seit ihrer Kindheit in den Einrichtungen leben. Schon vorige Woche wurden laut Nottelmann wichtige Informationen zum Coronavirus und zum Schutz vor einer Infizierung in leichter Sprache und mit Piktogrammen verteilt. „Das wurde von den Nutzern weitgehend gut aufgenommen und verstanden“, sagt sie. Die meisten wüssten, warum gerade keine Verwandten vorbeikämen.

Ebenso wichtig wie die Gespräche mit den Bewohner*innen sei die Kommunikation mit den Angehörigen. Während die meisten Angehörigen der Senior*innen von ganz alleine verstanden hätten, dass sie momentan nicht zu Besuch kommen sollten, sah das bei vielen Eltern von Kindern mit Behinderung anders aus. „Die kommen teilweise ja regelmäßig zu Besuch hierher. Jetzt zu verstehen, dass das nicht mehr geht, ist eine große Umgewöhnung“, sagt Nottelmann. „Man muss erst mal die Einsicht haben: Es betrifft auch mich.“

In der täglichen Pflege sei alles mehr oder weniger wie immer. Ein Kratzen im Hals werde vom Personal momentan zwar ernster genommen als sonst. Doch der Krankenstand sei noch nicht hochgegangen – weder bei den Bewohner*innen noch bei den Pflegekräften. „Den Umgang mit Infektionen kennen wir“, sagt Nottelmann. „Wir haben in der Arbeit ja ohnehin hohe Hygienestandards und sogar eine Vollzeit-Hygienefachkraft. Schließlich haben wir es in der Pflege auch sonst mal mit dem Norovirus, multiresistenten Keimen oder Influenza zu tun.“

Sollte sich der Virus immer weiter verbreiten, werde vermutlich bald das Betreuungs- und Freizeitangebot für die Bewohner*innen eingeschränkt. „Außerdem könnten wir vielleicht Kollegen aus anderen Bereichen hinzuzuziehen“, sagt Nottelmann. „Ich persönlich kann zwar keine Grundpflege übernehmen, aber eventuell Essen anreichen.“ Aus Nottelmanns Mund klingt die Situation planbar.

Nicht ganz so optimistisch ist Carolina S., die vor Ort in dem Heim in Niedersachsen arbeitet. Sie sieht die nahe Zukunft kritischer und mag gar nicht daran denken, was passieren wird, wenn der Ernstfall eintritt und beispielsweise das Personal knapp wird. „Wir haben einen Pandemieplan; aber der nützt uns herzlich wenig“, so die Hauswirtschaftsleiterin. Den Plan habe sich jemand in der Theorie ausgedacht – und das merke man. „Eine Situation wie jetzt hat einfach noch keiner erlebt.“ Vorschläge wie der, Hilfe von ambulanten Pflegediensten anzufordern, seien realitätsfern. Schließlich müssten auch die ambulanten Dienste ihre Klient*innen versorgen.

Der Coronavirus dürfe das Heim einfach nicht erreichen. „Wenn das Personal knapp wird, können wir weder den Wohnbereich, noch die Küche zumachen“, sagt sie. Man könne die Stunden der verbleibenden Mitarbeiter*innen aufstocken – aber nicht unbegrenzt. Es gebe Ideen wie die, Bewohner*innen im Notfall ins Krankenhaus zu schicken. „Aber das heißt ja nur, dass man das Problem verschiebt.“

Auch das, was passieren könnte, wenn sich mehrere Senior*innen gleichzeitig infizierten, beschäftige das Kollegium. „Werden wir dann alle zusammen im Haus unter Quarantäne gestellt?“, fragt S. sich. Laut niedersächsischem Gesundheitsministerium ist das durchaus denkbar. Infizierte Bewohner und Kontaktpersonen seien häuslich zu isolieren, heißt es von einer Sprecherin. „Je nach Beurteilung des Kontaktpersonenmanagements ist es möglich, dass eine Einrichtung in Gänze betroffen sein kann.“

Noch läuft aber auch in dem Heim in der Bremer Umlandgemeinde vieles wie gewohnt. Der „Tag X“, wie S. das nennt, ist noch nicht da. Ein paar Einschränkungen im Pflegealltag gibt es aber bereits. Gruppenbeschäftigungen fallen weg, ebenso die Besuche der Angehörigen. Nicht alle Bewohner*innen verstünden, warum im Haus weniger los sei, als zuvor. „Manche machen große Augen“, so S. Nicht jeder wolle oder könne Fernsehen – und die Möglichkeiten der Einzelfallbetreuung seien schlicht begrenzt.

Das Besuchsverbot für Alten- und Pflegeheime, das in Niedersachsen seit Dienstag gilt, habe man im Haus schon zuvor eigenständig erlassen. „Ob wir da rechtlich auf der sicheren Seite waren, wussten wir nicht“, sagt S. „Aber da die Gesundheit unserer Bewohner oberste Priorität hat, haben wir das entschieden.“

Von der Politik fühle nicht nur sie sich gerade alleingelassen. Es gebe wenig konkrete Ansagen, die Häuser müssten mit ihrer Situation und vielen Fragen selbst klar kommen und Lösungen finden. Was ist etwa, wenn für die Kinder von Mitarbeiter*innen vor Ort keine Notbetreuung bereitsteht? „Die Politik kommt uns stattdessen mit Hygieneregeln“, sagt S. „Aber die kennen wir selbst. Wir sind nicht aus Dumpfdorf.“

* Name von der Redaktion geändert