Kandidatenturnier in Russland: Im Schachfieber
In Jekaterinburg findet das WM-Kandidatenturnier statt – trotz Coronavirus. Teilnehmer beklagen die paranoide Stimmung.
Vor dem ersten Zug schnuppert der trinkfeste Russe Alexander Grischtschuk („Der beste Wein ist Wodka“) am Desinfektionsmittel. Jeder der acht Schach-Großmeister erhielt es vorsorglich. Zu Beginn der zweiten Partie stoßen er und Ian Nepomniaschtschi die Ellbogen kurz zur Begrüßung zusammen. Sein Landsmann trägt entgegen seiner Ankündigung wenigstens keinen Mundschutz.
Wie das alles in Jekaterinenburg genau ausgesehen hat, wissen wohl nur die wenigen Anwesenden. Denn der Schach-Weltverband Fide lässt beim WM-Kandidatenturnier nur eigene Fotografen zu. Dafür stellte die Fide Fünf-Zoll-Repliken, die an Barbies Puppe Ken erinnern, für Aufnahmen an die vier Bretter. Das sei „innovativ“, hieß es von der Fide, und sei ein Beitrag, die Teilnehmer des mit 500.000 Euro dotierten Wettbewerbs vor Corona-Ansteckung schützen.
Weltmeister Magnus Carlsen hat deshalb nur einen Wunsch, um für Dezember in Dubai einen neuen Herausforderer zu finden: „Ich hoffe in erster Linie darauf, dass das Turnier auch beendet wird“, bekannte der Weltmeister als Live-Kommentator auf der Webseite Chess24.com.
Einer seiner Vorgänger, Wladimir Kramnik, war ebenfalls als Moderator vorgesehen – doch der 14. Weltmeister der Schach-Geschichte mag zu dem unwürdigen Spektakel nichts beitragen. Er erklärte: „Ich bin fest davon überzeugt, dass das Kandidatenturnier angesichts der heutigen katastrophalen humanitären Situation in der Welt hätte verschoben werden müssen.“
In seiner Heimat Russland bekümmert die Situation die Sportfunktionäre nur am Rande. In Jekaterinburg soll es bis dato keine Covid-19-Fälle geben. Fide-Präsident Arkadi Dworkowitsch sieht zudem alle Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) erfüllt. Zudem seien in Russland „Veranstaltungen mit bis zu 5.000 Zuschauern erlaubt“, rechtfertigte sich der Weltverband via Twitter.
Wladimir Kramnik, Ex-Weltmeister
Zuschauer lässt die Fide aber bei den 14 Runden im Hyatt Regency Hotel lieber nicht zu. Alle Beteiligten werden zweimal am Tag medizinisch untersucht. Teimur Radjabow war das dennoch nicht geheuer. Der 33-jährige Aserbaidschaner sagte als Einziger die letzte Qualifikationsstufe für den WM-Zweikampf ab.
37 Grad Körpertemperatur sorgt für Panik
Der Chinese Ding Liren begab sich dagegen schon am 2. März in Russland in Quarantäne, um rechtzeitig ans Brett zu dürfen. Sein Landsmann Wang Hao war aus Japan angereist und entkam so der vorherigen Isolation. Das bekam ihm wohl besser, zum Auftakt schlug er den Mitfavoriten Liren. Der Weltranglistendritte zog auch noch tags darauf gegen Vachier-Lagrave den Kürzeren und kann das WM-Match abschreiben. Nepomniaschtschi brachte es mit einem Sieg über Anish Giri (Niederlande) und dem Remis gegen Grischuk wie Wang Hao und Vachier-Lagrave auf 1,5:0,5 Zähler.
Topfavorit in Jekaterinburg bleibt jedoch der punktgleiche Fabiano Caruna. In der zweiten Begegnung schlug der Italo-Amerikaner den einheimischen Kirill Alexejenko, der nur mit einer Wildcard ins Feld rutschte. Inzwischen ist der US-Amerikaner wieder gewillt, einen zweiten Anlauf auf den WM-Thron zu nehmen. Nach seiner Niederlage 2018 in der Verlängerung gegen Carlsen fand der Weltranglistenzweite nach längerer „Krise“ wieder den Spaß am Schach und deklassierte Carlsen&Co. um stolze zwei Punkte beim ersten wichtigen Test 2020 in Wijk aan Zee (Niederlande).
Die „Rechenmaschine“ des 27-Jährigen läuft wieder auf Hochtouren. Davon überzeugten sich die zahllosen Fans im Web, die für Rekorde sorgten – schließlich kann sie keine andere Sportveranstaltung ablenken, alle anderen Schachturniere wurden ebenfalls abgesagt. Insofern darf sich die Fide über besondere Aufmerksamkeit freuen. Allein an den Brettern bleibt die Lage fragil: Bei Caruana wurde eine Temperatur von „98,7 Grad Fahrenheit“ gemessen – minimal über 37 Grad Celsius. „Das sorgte für eine Panik“, berichtete der Topfavorit später und zeigte sich gegenüber „Today in Chess“ genervt: „Jeder ist hier extrem paranoid!“
In einer ersten Version des Artikels stand, dass gar keine Fotografen zu dem Turnier zugelassen waren. Am Ende versorgte der Schach-Weltverband die internationale Presse mit eigenen Bildern vom Turnier. Aktualisiert am 01.04.2020 um 16.32 Uhr
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