: Rudolf Steiner lesen
Seinen Namen kennen viele, seine Bücher lesen nur wenige. Der Gründer der Anthroposophie hat ein Riesenwerk hinterlassen. Da kann ein Überblick hilfreich sein
Von Wolfgang Müller
Angenommen, man möchte sich mal einen eigenen Eindruck von Rudolf Steiners Werk verschaffen – womit soll man anfangen? Viele Kenner werden als Erstes Steiners „Theosophie“ nennen. In diesem schmalen Bändchen entwickelt er gleich auf den ersten dreißig Seiten sein Bild des Menschen, der eben nicht nur ein physischer Körper sei, an den sich irgendwie etwas Geist angedockt hat, sondern ein subtil gegliedertes Wesen. Unser materieller, sichtbarer Körper ist laut Steiner nur das erste unserer „Wesensglieder“. Es gibt weitere, die unsichtbar und mit den am Materiellen orientierten heutigen Versuchsanordnungen nicht greifbar sind. Zunächst einmal den „Lebensleib“ (er nennt ihn auch „Ätherleib“), den wir mit den Pflanzen gemeinsam haben. Er ist quasi der stille Organisator des Materiellen, bei dessen Aussetzen wir von „Tod“ sprechen. Bei Objekten ohne Ätherleib tun wir das nicht. Eine Uhr bleibt stehen, sie stirbt nicht.
Ein weiteres Wesensglied, den „Seelenleib“ („Astralleib“), haben wir mit den Tieren gemeinsam. Charakteristisch für diese Ebene ist das Auftreten von Leidenschaften und lebhaften Empfindungen von Lust und Unlust. Schließlich, als ein erst beim Menschen auftretendes Wesensglied, das „Ich“. Eine etwas prekäre Instanz, wie jeder weiß. Steiner beschreibt menschliche Entwicklung im Kern als die Fähigkeit des Ich, ein harmonisches Zusammenspiel der Wesensglieder zu erreichen. Ein tyrannisches Ich kann das so wenig wie ein kraftlos-diffuses.
Wie man diese innere Entwicklung fördern kann, ist Thema eines anderen Buches: „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ Der für Steiner-Verhältnisse geradezu reißerische Titel hat zweifellos zur Verbreitung in mehreren Hunderttausend Exemplaren beigetragen. Der Inhalt kommt dagegen leise daher. Es geht um Demut als Voraussetzung jeder Entwicklung und um die sorgfältige Arbeit am eigenen Innenleben. Dadurch, so Steiner, sei es durchaus möglich, außer den handfesten sichtbaren Wirklichkeiten auch unsichtbare zu erkennen, die „geistige Welt“, wie er es nennt. Das verlange aber, dass der Mensch das Instrument dieser Erkenntnis, sich selbst, entsprechend vorbereitet. Sonst lässt sich eben nicht viel erkennen, so wenig wie man durch ein wackeliges Fernrohr mit schlecht geschliffenen Linsen den Kosmos erforschen kann.
Diese beiden Bücher, 1904/05 erschienen, stehen zeitlich etwa in der Mitte von Steiners Lebenswerk. Seine früheren Bücher, das bekannteste ist die „Philosophie der Freiheit“, sind rein philosophischer Natur. Es geht um Erkenntnistheorie und mentale Selbstentwicklung, noch kein Wort von Ätherleib und Astralleib. Als Steiner einmal gefragt wurde, was denn in ferner Zukunft von seinem Werk bleiben werde, nannte er dieses Buch.
Die späteren Werke bis zu seinem Tod 1925 vertiefen die genannten Themen, zugleich wendet sich Steiner, vor allem in Tausenden von Vorträgen, immer neuen Gebieten zu: 1919 etwa, vor Gründung der ersten Waldorfschule, dem Blick auf Kinder und deren noch ganz andere Stellung in der Welt, mit vielen pädagogischen Folgerungen.
Fast zeitgleich absolviert er Vortragsreihen über seine politischen Ideen zur „sozialen Dreigliederung“. 1924 gibt er einen landwirtschaftlichen Kursus, der Anstoß für den heutigen biodynamischen Landbau. Diese Vorträge, immer frei gehalten, wurden mitstenografiert und später herausgegeben.
Seine frühen erkenntnistheoretischen Publikationen verfasste der 1861 geborene Rudolf Steiner ab Mitte der 1880er Jahre. Das Gesamtwerk umfasst neben den Schriften mehr als 6.000 Vorträge sowie ein künstlerisches Werk. Die danach gegliederte Gesamtausgabe (GA) wird vom Rudolf Steiner Verlag sukzessive herausgegeben, sie ist auf rund 350 Bände angelegt und soll bis 2025 vollendet sein. Bisher sind bereits etwa 340 Bände erschienen. Das Rudolf Steiner Archiv im schweizerischen Dornach verwaltet seinen Nachlass, darunter etwa 1.800 Briefe, Hunderte Notizbücher, Tausende Notizzettel sowie stenografische Vortragsaufzeichnungen. Neben dem Rudolf Steiner Verlag haben sich weitere Verlage auf die Herausgabe anthroposophischer Schriften spezialisiert.
Zuletzt schließlich, nicht mehr vollendet, verfasst Steiner den Rückblick „Mein Lebensgang“. Hier schildert er unter anderem, warum er, eigentlich ein philosophischer Kopf, sich kurz nach der Jahrhundertwende der in mancher Hinsicht fragwürdigen „theosophischen“ Bewegung anschloss (sie war schon 1875 in New York von Helena Blavatsky begründet worden). 1913 löste er sich wieder daraus und sprach fortan von „Anthroposophie“ oder schlicht „Geisteswissenschaft“.
Allerdings: Wo auch immer man Steiners Werke aufschlägt – sie sind anspruchsvoll und verlangen die Bereitschaft zu einem neuen Blick auf die Welt. Einen Sinn ergeben sie überhaupt nur, wenn man in Betracht zieht, dass bestimmte unsichtbare, geistige Wirklichkeiten nicht blauer Dunst, sondern real und wirksam sein könnten. In Steiners Augen ist die sichtbare Welt letztlich eine Äußerungsform von geistigen Kräften. Man mag dabei etwa auch an eine spätere Formulierung des Quantenphysikers und Essayisten Hans-Peter Dürr denken: Materie sei „verkalkter“ Geist.
Das alles ist schwer in Worte zu fassen. Und noch schwerer ins Leben zu übersetzen. Denn, so Steiner, das Geistige „draußen“ lasse sich nur erfassen, wenn der Mensch das Geistige „innen“, in sich selbst, weckt und ergreift. Dies anzuregen war sein Ziel. Gleichwohl bilanzierte er in seinem letzten Lebensjahr: „Ich weiß, wie weit das, was ich in Büchern gegeben habe, davon entfernt ist, durch seine innere Kraft ein solches Erleben in den lesenden Seelen auszulösen.“ Das ist die Demut eines Mannes, mit dem nicht wenige Menschen einen Wendepunkt der Geistesgeschichte und ihres eigenen Lebens verbinden.
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