Praxisseminar im sozialen Brennpunkt

Im Warschauer Stadtteil Praga leiden viele Kinder unter Armut, häuslicher Gewalt oder Drogenkonsum.
Einmal im Semester schauen Studierende aus den USA, Deutschland und Polen den Streetworkern
über die Schulter – und sehen die verheerenden Folgen populistischer Umverteilungspolitik

Glücklich spielende Kinder? Keine Selbstverständlichkeit im Warschauer Stadtteil Praga Foto: Czarek Sokolowski/ap/picture alliance

Aus Warschau Gabriele Lesser

Piotr, lauf! Die Polizei!“, gellt die Stimme der 13-jährigen Anna durch den Hinterhof. Im zweiten Stock des grauroten Ziegelbaus reißt ein anderes Kind die Balkontür auf, sieht unten zwei Polizisten stehen und gibt den Ruf weiter: „Piotr, lauf! Polizei!“ Oft ist das nur Spiel: Diebe gegen Polizisten. Doch diesmal hat der elfjährige Piotr nichts geklaut, sondern mit anderen Kindern gekokelt, und am Ende hat die alte Garage gebrannt. Es ist niemandem etwas passiert. Die Garage gehört zu einem leer stehenden Fabrikkomplex, der abgerissen werden soll, so wie viele andere heruntergekommene Gebäude im Stadtteil Warschau-Praga auch. Doch der Kleine, finden Andrzej Orłowski und Tomasz Szczepański, soll zumindest eine Standpauke hören.

Die beiden Sozialarbeiter arbeiten in diesem sozialen Brennpunkt eng mit der Polizei zusammen. Doch seit die nationalpopulistische Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) 2015 und erneut 2019 die Parlamentswahlen gewann, gibt es immer weniger Geld für Streetworker, die die Kinder von der Straße holen. Gespannt lauschen Studierende aus Deutschland, Polen und den USA, was Orłowski und Szczepański auf einem Spaziergang durch mehrere heruntergekommene Straßenzüge über die Pädagogik- und Sozialanimations-Gruppe Praga-Nord, kurz GPAS, erzählen.

„Hier leben viele arme Familien, Alleinerziehende, auch Alkohol- und Drogenabhängige. Viele sind mit der Kindererziehung völlig überfordert und vergessen die Kleinen oft tagelang“, erzählt der hochgewachsene Szczepański. Er reibt sich die Hände vor Kälte, vergräbt sie tief in den Jeanstaschen und nickt seinem Kollegen Orlowski zu.

„Die Kinder sind dann oft bis Mitternacht auf der Straße, bevor sie nach Hause gehen und vielleicht noch irgendetwas essen, was auf dem Herd steht“, sagt der Mittvierziger. „Und am nächsten Morgen gehen sie dann völlig selbstständig in die Schule oder eben auch nicht“, fügt er hinzu. Szczepański deutet auf eine unscheinbare Tür in der dunklen Toreinfahrt: „Hier ist unser Büro. Aber das ist gerade mal ein Raum. Unser Arbeitsplatz – das ist die Straße. Wir sind da, wo die Kinder sind.“

Drei Unis, ein Seminar

Die 30 Studierenden von der Fachhochschule Erfurt, der Temple-University in Philadelphia (Pennsylvania) und der Warschauer Universität wollen ebenfalls Sozialarbeiter werden. Noch sind alle im Bachelor-Studiengang eingeschrieben. Doch fast alle wollen später noch einen Master draufsetzen und sich auf internationale Sozialarbeit, Hilfe für Minderheiten oder Arbeit mit sozial ausgegrenzten Familien spezialisieren. Deshalb nehmen sie am einwöchigen Seminar „Armut und soziale Exklusion im internationalen Vergleich“ teil, das die drei Hochschulen seit drei Jahren anbieten.

Auf die Idee, ihre Studierenden zusammenzubringen, kamen die Professoren vor gut vier Jahren: Jörg Fischer, der an der Fachhochschule Erfurt den Masterstudiengang Internationale Soziale Arbeit leitet, die auf Sexualerziehung in sozialer Arbeit spezialisierte US-Amerikanerin Kimberly McKay von der Temple University, und der Pole Tomasz Kazmierczak, der am Institut für Sozialarbeit an der Uni Warschau lehrt. Auf Polen kamen die drei, weil das Land seit vielen Jahren als Vorreiter der Armutsbekämpfung gilt. Besonders interessant, so Fischer, seien die „rapiden Veränderungen in der politischen Agenda Polens, seit die PiS die Regierung in Polen stellt.“ In den Kooperationsseminaren könnten die Studierenden die Folgen der PiS-So­zialpolitik direkt erleben. „Es ist das eine“, so Fischer, „aus Büchern oder Zeitungen von politischen oder gesellschaftlichen Veränderungen zu erfahren, etwas völlig anderes aber, Situationen selbst zu erleben, die populistische Strömungen erzeugen und am Ende – durch die Wahl populistischer Parteien – ganze soziale Gruppen aus der Mehrheitsgesellschaft ausschließen.“

Das Seminar „Armut und Soziale Exklusion im internationalen Vergleich“ wird seit drei Jahren an der Fachhochschule Erfurt, der Temple-University in Philadelphia und der Warschauer Universität angeboten. In Erfurt gehört das Blockseminar mit Vorlesungen, Gruppenarbeit, Präsentationen und Workshops bei NGOs zum ständigen Lehrprogramm, in Warschau/ Philadelphia ist es optional.

Teilnehmen können an dem einwöchigen Seminar Studierende des Studiengangs Internationale Sozialarbeit in Erfurt sowie der Bachelor-Studiengänge in Philadelphia und Warschau. Teilnehmer aus Erfurt müssen sich mit rund 200 Euro beteiligen. Die übrigen Kosten tragen die Hochschule, die Thüringer Landeszentrale für politische Bildung, DAAD und der Europäische Sozialfonds. (taz)

Für Fischers amerikanische Kollegin McKay – 43 Jahre alt, zierliche Gestalt – liegt der Schwerpunkt woanders: „Ich finde es sehr aufschlussreich, wie sich die Geschichte eines Landes auf die Entstehung von Armut auswirken kann. Für uns Amerikaner ist Polen auf gewisse Art ein Spiegel.“ Die Probleme seien ähnlich, doch in der polnischen Gesellschaft trete der Mechanismus von Ursache und Wirkung so klar zutage, dass das „ein enormer Erkenntnisgewinn für uns ist“.

Professor Kazmierczak, der bereits in englisch- und deutschsprachigen Fachmedien über die PiS-Sozialpolitik schrieb, interessiert sich vor allem für den Abbau von Sozialleistungen des Staates. „In Polen hat die PiS mit dem 500plus-Programm – für jedes Kind gibt es unabhängig vom Einkommen 500 Złoty (circa 125 Euro) Kindergeld monatlich – schon zwei Mal die Wahlen gewonnen.“ Zugleich nehme die PiS-Schulreform insbesondere armen und auf dem Land lebenden Kindern die Chance auf eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

Nach acht Jahren in der Dorf-Grundschule ohne Physik- und Chemielabors, ohne Fachlehrer für Kunst, Französisch oder Latein sei es viel schwerer, in Konkurrenz mit den Stadtkindern die Aufnahmeprüfung für die Oberschule und später die Uni zu schaffen. Internate böten zwar Abhilfe, doch die könnten sich nur diejenigen leisten, die über ein sehr gutes Einkommen verfügten. Kazmierczak quittiert die Abschaffung der Mittelschulen (7. bis 9. Klasse) und die Rückkehr zum Schulsystem vor 1989 mit einem bitteren Auflachen.

„Damals bekamen Kinder aus armen Familien und diejenigen ‚vom Dorf‘ wenigstens noch Bonuspunkte, so dass sie im Wettbewerb mit den Stadtkindern eine Chance hatten. Heute bekommen die Eltern – egal ob arm oder reich, auf dem Land oder in der Stadt – 500 Złoty Kindergeld.“ Die Kehrseite dieser Zahlungen, die direkt und monatlich in den Portemonnaies der Wähler landeten, sei ein massiver Abbau sozialer Leistungen, die bislang – bezuschusst vom Staat – vor allem Nichtregierungsorganisationen (NGOs) geleistet hätten. „Von den bis 2030 versprochenen eine Million Sozialwohnungen hat die PiS in vier Jahren gerade mal 900 gebaut“, erklärt der untersetzte Wissenschaftler den Gästen. „Die Leute landen auf der Straße. Da hilft dann auch kein Kindergeld mehr. Und das ist in Deutschland und den USA nicht anders als in Polen.“

Die trinationale Gruppe biegt in die verrufene Brzeskastraße ein. Die unverputzten Ziegelhäuser aus der Vorkriegszeit wurden nie renoviert, haben keine Bäder. Die Toiletten im Treppenaufgang müssen sich immer zwei Familien teilen. „Wir Streetworker versuchen, den Kindern hier zu zeigen, dass es neben dem Kriminellen- und Drogenmilieu auch noch eine andere Welt gibt, zu der auch sie Zugang haben. Wir arbeiten mit kleinen Gruppen, fünf bis sechs Jungs oder Mädchen“, erklärt Szczepański. Er deutet auf eine Toreinfahrt, in der drei 16- oder 17-Jährige irgendein Geschäft abwickeln. „Manche verlieren wir trotzdem. Das schmerzt dann.“

PiS-Regierung hat staatliche Programme massiv gekürzt

Fürs Kindergeld Alkohol

Der kleine Piotr sei auch so ein Risikokandidat. Er habe schon einiges auf dem Kerbholz. Die Eltern würden das monatliche Kindergeld zumeist in Alkohol investieren, das Vater verstehe unter „Erziehung“ vor allem Prügeln. Immerhin koche die Mutter manchmal etwas. Dabei sei Piotr ein netter kleiner Junge. Eine Erziehungsanstalt würde ihm nicht helfen. Im Gegenteil: Vor zwei Jahren ergab eine Evaluierung durch die Oberste Kontrollkammer, dass rund 60 Prozent aller „Absolventen“ eines solchen Heims mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Daher gehört es zu den GPAS-Zielen, den Straßenkindern ein zweites Zuhause zu schaffen – in einer möglichst stabilen Kindergruppe mit einem oder einer „Großen“.

Am Tag nach dem Spaziergang durch Warschau-Praga ziehen die Studierenden ein erstes Resümee. Am Ende der Woche werden sie noch nach Krakau und Auschwitz fahren, bevor es dann für alle zurück nach Hause geht. „Mich hat die sehr gute Arbeit der NGOs tief beeindruckt“, sagt die 24-jährige Lara aus Erfurt. „Ja“, stimmt Cathy aus Philadelphia zu. „Vor allem der Umgang der polnischen Streetworker mit den Kindern! Ich arbeite neben dem Sozialarbeits-Studium auch schon mit vernachlässigten Kindern, aber unser Ansatz ist ein ganz anderer. Ich denke, hier können wir von den Warschauern etwas lernen.“

Für Helena, 25, aus einem Vorort von Pennsylvania, kommt das Seminar einem Schlüsselerlebnis nah: „Ich habe mich entschieden, nach dem Studium mit einer Minderheit in den USA zu arbeiten, so wie ich das von Anfang an tun wollte. Aber – und das ist neu – ich will zeitgleich in die Politik gehen.“ Die junge Frau, die Hose und Rock übereinander trägt, schaut alle in der Runde kurz an: „Wir haben hier in den paar Tagen alle begriffen, wie Sozialpolitik dazu missbraucht werden kann, um Wahlen zu gewinnen und danach eine Politik zu machen, die an den Interessen der Bedürftigen völlig vorbeigeht. Wenn ich das ändern will, muss ich selbst an den Schalthebeln der Macht sitzen. Wie ich das bewerkstelligen kann, weiß ich noch nicht. Aber mein Entschluss steht fest: Ich gehe in die Politik.“