piwik no script img

„Dieses Projekt ist substanziell unnötig“

Tiziano Cardosi hat zwanzig Jahre lang als Bahnhofschef gearbeitet. Jetzt ist er pensioniert und kämpft seit sechs Jahren erbittert an der Spitze einer kleinen Bürgerbewegung gegen die Untertunnelung von Florenz. Aber damit enden die Parallelen des Bahnprojekts in Florenz zu Stuttgart 21 noch lange nicht

Sandro Mattioli im Gespräch mit Tiziano Cardosi

Herr Cardosi, fahren Sie denn nicht gerne mit dem Hochgeschwindigkeitszug?

Doch, natürlich, es ist eine gute Sache. Wir sind nicht gegen Hochgeschwindigkeitszüge. Im Gegenteil, wir wollen schnelle Züge für alle. Ich habe in den Siebzigern die Entstehung der ersten schnellen Zuglinie in Italien beobachten können. Sie führte von Rom nach Florenz. Das war eine Linie, die damals optimal war und es heute noch ist. Sie erlaubt Geschwindigkeiten bis maximal 250 Kilometer pro Stunde. Vor allem aber können alle möglichen Zugtypen darauf fahren.

Warum ist das, was damals gut war, heute schlecht?

Das Modell der Hochgeschwindigkeitsstrecken in Italien war nie ein öffentliches Projekt, es ist nicht in einem Ministerium entwickelt worden. Es entsprang einem Übereinkommen zwischen dem Autobauer Fiat und den Kooperativen von Bauunternehmen und dient vor allem den Interessen der Industrie, korrupten politischen Parteien und Finanzunternehmen. Es bedient keine soziale Bedürfnisse, sondern sichert Bauunternehmen hohe Profite. Zunächst wurden zudem nur die Verbindungen zwischen großen Städten projektiert. Das größte Problem in Italien ist aber die Mobilität innerhalb der großen Städte. Aber dieses Problem wird nicht angegangen. Dieses Projekt ist für das Transportsystem substanziell unnötig. Es ist schädlich für die städtische Umgebung, und es ist und wird extrem teuer.

Aber macht es den Zugverkehr nicht schneller?

An sich schon. Zwischen Bologna und Florenz wurde ein Geschwindigkeitsrekord für Züge im Tunnel aufgestellt: mehr als 360 km/h. Regulär wird dort jetzt mit 300 km/h gefahren. Aber schon wenn man in die Nähe der Stadt kommt, müssen die Züge auf rund 100 km/h abbremsen, und unter Florenz fahren die Züge dann mit 70 km/h Maximalgeschwindigkeit in den Tunneln. Es gibt einige Kurven. Das ist absurd für eine Hochgeschwindigkeitsverbindung.

Aber hat der Tunnel nicht auch Vorteile im Vergleich zur heutigen Situation?

Eigentlich nicht. Er ist unnötig, weil er keine Verkürzung der Strecke bringt, die Strecke bleibt die gleiche. Und auch die Geschwindigkeit ist etwas geringer. Vor allem ist er aber nicht nötig, denn für das heutige Zugvolumen sind die bestehenden Gleise mehr als ausreichend. Es gibt große Vorteile für die Unternehmen, die die Tunnel bauen. Aber keine für die Unternehmen, die das Bahnnetz verwalten, nicht einmal für die.

Gäbe es denn alternative Erweiterungsmöglichkeiten?

Wir haben gemeinsam mit pensionierten Projektierern der Bahn wie auch einer Abteilung der Universität Florenz eine Machbarkeitsstudie erstellt, wie man den Bahnhof oberirdisch um zwei Gleise ergänzen kann, auf einer Länge von etwa drei Kilometern. Auch das ist zwar an sich nicht nötig, wäre aber ein sehr simples Vorhaben, um die Kapazität zu erweitern. Und es würde viel weniger kosten als die Tunnellösung, etwa ein Zehntel.

In Stuttgart ist ein ähnliches Projekt in Planung, S 21. Haben Sie verfolgt, was hier passiert?

Ja, zwar nicht im Detail, aber ich weiß ungefähr, um was es sich bei S 21 handelt. Ein Projekt, das viel größer ist als das in Florenz. Es soll ein Kopfbahnhof beseitigt werden. In Florenz könnte man ohne große Mühe den Kopfbahnhof durch eine der vier Durchgangsstationen ersetzen. Ich weiß, dass der Kampf in Stuttgart viel stärker und intensiver ist als bei uns. Die Bürger sind besser informiert. In Florenz gibt es das nicht.

Die Stuttgarter Bewegung klagt trotzdem häufig über die Berichterstattung in den lokalen Medien. Wie ist das in Florenz?

Es gibt hier eine diskrete Verhinderungstaktik. Die Medien vermeiden, uns anzurufen. Nach so vielen Jahren mit Demonstrationen können sie uns eigentlich nicht mehr ignorieren. Aber sie tun es. Wir kennen Journalisten, auch von großen Zeitungen, die sagen, wir schreiben Artikel, aber unser Chefredakteur lässt sie nicht drucken.

Gibt es keine kritische Berichterstattung?

Doch. Manchmal haben Zeitungen, die Berlusconis politischer Richtung zuzurechnen sind, etwas veröffentlicht, weil die Landesregierung der Toskana links ist. Aber das war nur selten der Fall. Wir haben jedenfalls große Probleme, Zugang zu den Medien zu bekommen.

Werden Sie denn trotzdem wahrgenommen?

Wir sind eine Bürgerbewegung und haben uns vor allem mit dem Ziel gegründet, die Bürger über das geplante Vorhaben zu informieren. Damals wussten weniger als zehn Prozent der Florentiner etwas darüber. 2010 ergab eine Umfrage, dass dieser Wert auf etwa zwanzig Prozent gestiegen ist, eine weitere Studie ergab unlängst eine Bekanntheit bei dreißig Prozent der Bürger. Wir machen Fortschritte, aber es gibt eine große Desinformation.

In Stuttgart wurde oft darüber gestritten, ob die Bürger von den Projektplanern ausreichend informiert wurden oder nicht. Wie ist das in Florenz?

In Florenz ist die Desinformation ein starkes Instrument der Projektbefürworter. Sie behaupten, dass die Untertunnelung oberirdische Kapazitäten freimachen würde für einen besseren Regionalverkehr. De facto werden gerade vor allem wegen der Wirtschaftskrise Verbindungen gestrichen. Für was soll man also Gleise freimachen, wenn es keine Züge gibt? Und wir haben gezeigt, dass die zwei oberirdischen Gleise denselben Zweck erfüllen würden, sogar mit einer etwas höheren Durchfahrtsgeschwindigkeit als die Tunnel, aber viel billiger wären. Das Ganze muss also ein anderes Motiv haben.

Wird Ihre Bewegung von offizieller Seite gehört?

Wir haben das Gefühl, gegen eine Mauer zu laufen. Von Anfang an wollten wir eine öffentliche Auseinandersetzung zwischen Technikern, die für die Untertunnelung sind, und Technikern, die uns unterstützen. Bei dieser Auseinandersetzung hätten die Befürworter zeigen können, dass die Untertunnelung nützlich ist. Diese Veranstaltung wurde uns aber nie zugestanden.

Und wie verhält es sich mit den zuständigen Ämtern, der Politik?

Im Februar des vergangenen Jahres haben wir an einer Sitzung der Region Toskana teilgenommen, einer Zusammenkunft von zwei Kommissionen, die sich um Umwelt und Verkehr kümmern. Unsere Techniker haben dabei alle unsere Belange vorgetragen. Danach gab es nicht einmal eine Nachfrage aus dem Plenum. Es gab keine Debatte, nichts. Wir haben gefordert, vor einer Umwelt-Beobachtungsstelle sprechen zu dürfen. Diese Stelle soll die Realisierung von großen Infrastrukturprojekten überwachen. Aber in diesem Gremium sitzen all die Befürworter des Projektes: die Eisenbahn, also die Auftraggeberin, und sogar ein Vertreter des Unternehmens, dass die Tunnel bauen soll. Ich weiß nicht einmal, ob ein Kontrollgremium, das so beschaffen ist, in Nordeuropa überhaupt durchsetzbar wäre.

Ihre Vorträge hatten überhaupt keine Wirkung?

Nach einem Monat haben wir nachgehakt. Man hat uns Folgendes geantwortet: „Eine Anhörung bedeutet, dass wir euch anhören. Aber wir haben euch nichts zu sagen.“ Das ist das Niveau der Befürworter.

Von welchen Risiken haben Sie denn berichtet?

Ich fasse mich kurz, es soll ja kein Essay werden. Es gibt zwei große Risiken: erstens den Einfluss auf das Grundwasser. Dabei geht es nicht so sehr um die Tunnel, sondern vor allem um den unterirdischen Bahnhof. Dort, wo der Bahnhof gebaut werden soll, und dort, wo die Tunnel beginnen, sollen in vierzig Metern Tiefe Betonmauern errichtet werden. Das Grundwasser in Florenz liegt in einer Tiefe von sechs bis vierzehn Metern. Dort wird also das Grundwasser blockiert. Es werden dabei auch unterirdische Kanäle gebaut.

Wie wirkt sich das aus?

In manchen Gebieten steigt das Grundwasser an, anderswo dagegen sinkt der Spiegel und das Volumen des Bodens nimmt ab – in geringem Maß zwar, aber es nimmt ab. Da Florenz auf Sand und nicht auf steinigem Untergrund errichtet ist, werden sich ganze Stadtquartiere etwas absenken. Es könnte zu Schäden an Gebäuden kommen, vielleicht auch erst nach einigen Jahren. Das ist schwerwiegend, und das wissen die Projektplaner bestens. Deswegen wollen sie Gegenmaßnahmen ergreifen, aber wir wissen nicht, ob die ausreichend sind und was passiert, wenn sie nach einigen Jahren enden.

Zweitens?

Das zweite große Problem sind die Oberflächenbewegungen. Für die Arbeiten wird eine Fräse verwendet, die der ähnelt, die man in Köln benutzt hat, wo daraufhin das Archiv der Stadt eingestürzt ist. Das sind zwar moderne Maschinen, die die Gefahr der Erdbewegungen minimieren, aber ein Risiko bleibt.

Lassen sich diese Situationen denn vergleichen?

Drei Geologen haben jedenfalls gewarnt, dass dieses Problem in Florenz unterschätzt wird. Und unsere Techniker haben berechnet, dass es zu Bodenabsenkungen von fünf Zentimetern kommen kann. Dort, wo die Kurven geplant sind, gehen wir von bis zu 15 Zentimetern aus. Wenn die Absenkungen gleichmäßig vonstatten gingen, würde es keiner bemerken, aber dem ist nicht so. Es wird also zu Rissen in Gebäuden kommen. Der Effekt wird noch verstärkt dadurch, dass die zwei Tunnelröhren nacheinander gebohrt werden.

In Stuttgart wurde viel über das sogenannte Grundwassermanagement gestritten und über die Menge des Wassers, das abgepumpt werden soll …

Eigentlich müsste auch in Florenz ein Grundwassermanagement-System errichtet werden, aber dieses System ist noch nicht einmal geplant. Das Projekt ist überhaupt schlecht geplant: Es hat sich herausgestellt, dass der Bahnhofsbau nicht den Anti-Erdbeben-Normen entspricht, die sich der italienische Staat nach dem Erdbeben in L'Aquila gegeben hat. Wir haben das bei der Region Toskana vorgebracht. Dort sagte man uns, es sei nicht in ihrer Zuständigkeit, zu intervenieren, wir haben uns daraufhin an das Ministerium für öffentliche Arbeiten gewendet, die meinten, die Zuständigkeit liege bei der Region Toskana. Es wissen also alle, dass der Bau nicht dem Reglement entspricht, aber keiner unternimmt etwas. Und dabei liegt Florenz in einer seismischen Zone und die Tunnel würden den Effekt eines Erdbebens sogar noch verstärken!

Gibt es denn keine Kontrollen?

Hier in Italien ist es so, dass der Generalunternehmer für den Bau eine extrem wichtige Rolle spielt, er hat viel Macht, sogar sämtliche Kontrollfunktionen, etwa was den Umwelteinfluss anbelangt. Der Generalunternehmer ist beispielsweise zuständig dafür, eventuelle Verschmutzungen des Grundwassers zu überprüfen. Der Gesetzgeber ist nur für das Bewerten der Daten dieser Kontrollen zuständig. Die Daten stammen aber vom Bauherren, und niemand überprüft, ob diese Daten valide sind oder nicht.

Das kann ja nicht funktionieren …

Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Die Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Turin und Neapel ist die erste Infrastruktur, die nach dem Prinzip des Generalunternehmers konstruiert worden ist. Dieser kontrolliert auch die Kosten. Das hat zur Folge, dass die Strecken hier viel teurer sind, etwa fünf Mal so teuer wie in Frankreich. Die Strecke Florenz–Rom wurde auf klassische Art und Weise ohne Generalunternehmer konstruiert. Die Eisenbahn hat das Projekt geplant und ausgeschrieben, ein Unternehmen hat den Auftrag bekommen. Es war eine komplexe und schwierige Arbeit, auch mit vielen Tunneln. Diese Strecke hat etwa 23 Millionen Euro pro Kilometer gekostet.

Und zum Vergleich die neuen Linien?

Die aktuellen Linien kosten 64 Millionen Euro pro Kilometer. Florenz–Bologna, fast alles Tunnel, kostete rund 90 Millionen Euro pro Kilometer. Mailand–Turin, fast alles eben, hat 54 Millionen Euro pro Kilometer gekostet. In Frankreich haben die zuletzt gebauten Strecken lediglich 13 Millionen Euro pro Kilometer gekostet. Diese Anomalie ist gravierend! Wir bemühen uns, das anzuprangern, wir wollen das auch bei der Europäischen Union bekannt machen.

Aber das alles müsste doch die Leute wütend machen und auf die Straßen bringen, oder?

Wir sind etwa 200 Aktivisten, zu Organisationstreffen kommen mal 15, mal 20 Leute. Wir haben einen Verteiler mit rund 600 Adressen. Die Florentiner sind schlecht informiert, und es ist schwer, sie zu mobilisieren. Zur letzten Demonstration kamen rund 2.000 Leute. Das ist für uns ein Erfolg, aber ich muss sagen, es sind auch enttäuschend wenig, wenn man die gravierenden Auswirkungen des Projekts bedenkt. Wir sind keine proletarische Bewegung, in den Vierteln, in denen die Mittelschicht und das höhere Bürgertum lebt, bekommen wir mehr Aufmerksamkeit. Aber die reicht eben noch lange nicht, um dieses absurde Projekt zu verhindern.

Tiziano Cardosi kommt zu Besuch nach Stuttgart. Am 29. September wird er auf der geplanten Großdemo gegen Stuttgart 21 zu Gast sein.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen