Extremismus-Diskussion: Ein Volk von Demokraten
Thüringen zeigt, dass die Idee der Mitte auf der Romantisierung des NS-Regimes beruht. Dessen Unterstützung durch die Bevölkerung wird geleugnet.
N ach der vergangenen Landtagswahl in Thüringen war schnell die Rede davon, dass jetzt „Weimarer Verhältnisse“ herrschen. In den Badischen Neuesten Nachrichten beschwor Martin Ferber, unter Bezug auf die Weimarer Republik, das Bild einer sich zwischen den Extrempositionen zerreibenden Mitte herauf, während die „beiden Parteien am jeweils äußersten Rand des politischen Spektrums, AfD und Linke, zusammen eine Mehrheit der Stimmen“ erreicht hätten. Doch es bleibt die Frage, warum 23 Prozent der Wähler:innen der faschistischen AfD ihre Stimme gaben. Etwa weil sie Weimarer Verhältnisse heraufbeschwören wollten?
Dass ein Kandidat der FDP, die sich selbst als Partei der „Mitte“ bezeichnet, sich von Rechten wählen lässt, ist dabei vielleicht nicht einmal zentral. Eher ist die Frage zu stellen, wie ein offensichtlich rechtsextremes Wahlprogramm in weiten Teilen der Bevölkerung anscheinend auf Resonanz stößt. Wer dies untersuchen will, kommt an der Frage nach der Anschlussfähigkeit rechter Positionen in der politischen Mitte nicht vorbei.
Diese Anschlussfähigkeit ist weniger in der Auferstehung Weimarer Verhältnisse zu suchen, sondern im Umgang mit der NS-Vergangenheit nach dem Krieg. Wie in den Forschungen des Historikers Götz Aly zutage trat, waren hunderttausende Deutsche direkt am Mord an den europäischen Juden beteiligt, während Millionen, ruhig gehalten durch Umverteilung geraubten jüdischen Eigentums auf Deutsche, aktiv wegschauten. Diese Nutznießerschaft großer Bevölkerungsteile an den antisemitischen Verbrechen wurde nach dem Krieg systematisch totgeschwiegen. Eines der ersten Gesetze, das den neu etablierten Bundestag passierte, war ein Amnestiegesetz für Minderbelastete. Nach den Forschungen des Historikers Norbert Frei wurden auf Grundlage dieses Gesetzes bis 31. Januar 1951 fast 800.000 Personen rehabilitiert.
Liest man zudem Reden oder Texte vieler Politiker, Philosophen, Theologen oder Historiker der Nachkriegszeit, würde man nicht auf den Gedanken kommen, dass die Deutschen gerade 6 Millionen Juden umgebracht haben. Von einer „Tragödie des deutschen Volkes“ ist die Rede. Und wenn der Historiker Friedrich Meinecke bereits Ende 1945 wieder die Stärkung des deutschen „Wehrgeistes“ forderte, so war er damit ganz auf der Linie Thomas Manns, der in seinen Radioansprachen während des Krieges darauf beharrte, dass der NS niemals mit der „Geschichte des deutschen Geistes“ verwechselt werden dürfe.
Romantisierung des NS
Dass Meinecke zur sittlichen Erziehung der Deutschen die Entnazifizierung ablehnte und stattdessen die Gründung von „Goethegemeinden“ vorschlug, spielt in diesem vergangenheitspolitischen Schauspiel eine zentrale Rolle. Wie Max Czollek auf den Punkt bringt: Die Deutschen empfanden den Sieg der Alliierten nicht als Befreiung vom NS, sondern als Niederlage. Meinecke sprach noch Ende 1945 fast andächtig von „unserem ungeahnt großen Siege über Frankreich“ oder „unser[em] Abwehrkampf gegen Westen und Osten“.
Statt einer Aufarbeitung der Verwicklung großer Teile der Bevölkerung in den NS, wurde die deutsche Vergangenheit romantisiert. In dieser „allgemeinen Tragödie des deutschen Volkes“ – die Juden kamen da übrigens, wenn überhaupt, nur äußerst marginal vor – wurde das „satanische“ Wirken Hitlers (Meinecke) in eine Geschichte eingesetzt, die mit der mythischen „Goethezeit“ anfing und, abgesehen von kleineren oder größeren antisemitischen und nationalistischen Fehltritten, liberal und geordnet verlief.
Diese Romantisierung und Relativierung des NS ist gegenwärtig wieder zu beobachten. Es wird Reichsbier ausgeschenkt, schwarz-weiß-rote Flaggen zieren Campingplätze, Eiserne Kreuze Thüringer Traktoren oder Plaketten mit der Aufschrift „Deutsches Schutzgebiet“ Privathäuser; das „gute alte“ Deutschland liegt im Trend. Immer unter dem findigen Hinweis, dass dies ja keine NS-Devotionalien seien, sondern auf die Geschichte Deutschlands verweisen, die man sauber vom NS scheiden müsse.
Konstruktion einer „Mitte“
Dieses saubere Scheiden ist ein Effekt der skizzierten Verdrängungsstrategie. Anstatt die Beteiligung und Nutznießerschaft anzusprechen, wird auf „die“ Nazis verwiesen, denen obendrein eine quasi eschatologische Funktion als „satanisch“ zugeschrieben wird. Dass ganz normale, „anständige Leute“ sich dem NS andienten, ihn zumindest gern ertrugen; diese „Banalität des Bösen“ wird unterschlagen. Es sind genau diese „anständigen Leute“, die sich heute mit Zeichen der deutschen Geschichte schmücken.
Heute wird, unter Bezug auf die vermeintlich extremen Ränder des politischen Spektrums, Linkspartei und AfD, eine gesellschaftliche Mitte konstruiert, die die ständig bedrohte Essenz des deutschen demokratischen Bewusstseins darstelle. Zur Legitimierung dieser Konstruktion wird reflexartig auf die Weimarer Republik verwiesen. Damit wird zum einen ein präfaschistisches Demokratiebewusstsein der Deutschen konstruiert, das von links und rechts bedroht und letztlich gescheitert, selbst aber sozusagen makellos sei. In diesen Zusammenhang passt auch das Verhalten vieler FDP- und CDU-Akteure im thüringischen Landtag, obwohl man Bodo Ramelow nur unter Bemühung sämtlicher Register der Übertreibung als „linksextrem“ bezeichnen kann.
Dass der greise CDU-Politiker Bernhard Vogel im Deutschlandfunk darauf beharrte, „gestimmt haben wir für einen Mann der Mitte“, verweist auf eine nach dem Krieg offenbar eingeübte Abwehrhaltung. Man will nicht wahrhaben, dass die Konstruktion der Mitte auf dem Verschweigen der Weiterexistenz antisemitischer und nationalsozialistischer Vorurteile in großen Bevölkerungsteilen beruht. Denn die Entscheidung für den „Mann der Mitte“ Thüringens folgte dem Willen von rechts.
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