: Mit Sang und Klang zum Untergang
Musikalische Erkundung eines „Verschwundenen Landes“: Bei „Mensch, Puppe!“ steht kommende Woche die Wiederaufnahme von Jeannette Lufts und Ella Winkelmanns DDR-Revue auf dem Programm
Von Henning Bleyl
Es waren 28 Liter Schnaps pro Jahr und Kopf, Kinder eingerechnet: Die DDR war Alkohol-Weltmeister. Was sie für ihre Bewohner sonst noch alles war – Heimat, Alltag und harte Diktatur – erfährt man so sinnlich wie reflektiert in der Revue „Verschwundenes Land“ von „Mensch, Puppe!“. Jeannette Luft, die Figurenspielerin, lässt ihre Puppen allesamt im Schrank und verlässt sich stattdessen ganz auf biografische Erfahrungen – ihre eigenen und die ihrer Ex-Mitbürgerin Ella Winkelmann. Aus der Perspektive einer Kindheit in Zwickau und einer Weimarer Jugend singen sich die beiden durch die Stationen ihrer DDR-Geschichte. Angefangen von der berühmten Sandmann-Melodie auf DDR 1, deren harmlose Friedlichkeit sogleich mit dem Lied „Wenn ich groß bin, gehe ich zur Volksarmee“ konterkariert wird: „Ich fahre einen Panzer, rattata, rattata“.
Das Konzept der Revue, private und monströse DDR-Geschichte(n) anhand von Liedern sowohl staatstragender als auch oppositioneller Natur zu erzählen, funktioniert hervorragend, zumal es reichlich Raum für Zwischentöne und Erzählebenen lässt. Es ist bemerkenswert, wie sicher Jeannette Luft die Tonlagen so verschiedener Genres wie dem Sandmann-Sound, „Auferstanden aus Ruinen“ oder Nina Hagens schmolliger Punk-Polka „Du hast den Farbfilm vergessen, mein Michael“ trifft. Die war übrigens keineswegs Underground, sondern Mitte der 1970er Jahre auf den vorderen Plätzen der „DDR-Jahreshitparade“ vertreten. Unter Oppositions-Verdacht stand da schon eher „Wer die Rose ehrt“ der Klaus-Renft-Combo, die zwar im staatlichen Rundfunk gespielt wurden, sich aber 1975 auflösen mussten. Hier hat Ella Winkelmann einen intensiven Moment, die auch als Pianistin beeindruckt: Frucht ihrer strengen DDR-Ausbildung, die mit fünf Jahren begann – und abrupt nach ihrer Weigerung endete, Kommilitoninnen gegenüber der Stasi zu belasten.
Doch die eigentliche Stärke des Abends besteht in der Authentizität der individuellen Erinnerung. Die bewirkt keineswegs Beliebigkeit – denn das strukturelle Korsett eines Lebens in der DDR, gespiegelt in der Mischung „aus Liedern, die wir mochten, und Liedern, die wir mögen sollten“, wie Luft sagt, erzwang ja mehr Gemeinsamkeit, als im Westen vorhanden war. Manche sagen sogar: ermöglichte mehr Gemeinsamkeit.
Ostalgie ist das nicht, da sind schon die eingestreuten statistischen Daten vor: Eben nicht nur in Bezug auf Schnaps, sondern auch in Hinblick auf Häftlingszahlen, Misshandlungen und Mauertoten. Ob die DDR tatsächlich ein „verschwundenes Land“ ist, wie der Titel behauptet? Ihre Konturen zeigen sich ja zuverlässig immer dann, wenn sozioökonomische Ungleichheiten in Kartenform visualisiert werden, etwa Kinderarmut, niedrige Löhne, Vermögensverteilung, AfD-Erfolge. Verschwunden ist in jedem Fall der (Zwangs-)Rahmen überschaubarer Lebensverhältnisse, in dem gleichwohl mehr Vielfalt und Verwirklichung möglich war, als per Westblick oft wahrgenommen wird. Hier zuzuhören, ist nicht nur für Schulklassen eine wichtige Gelegenheit.
Die Aufführungen am 27. 2. und 22. 3. sind ausverkauft, Karten gibt es noch für den 3. 4., 9. 5. und 4. 6., je 20 Uhr, Theaterkontor
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