: Das Pfeifen der Nachtwächter
Der Journalist Nedim Türfent sitzt seit dreieinhalb Jahren im Gefängnis. In seinem Brief schreibt er über die Nachtwächter und die Sicherheitspolitik der AKP
Von Nedim Türfent
Seit über drei Jahren ist der Reporter Nedim Türfent im Gefängnis, davon 18 Monate in Isolationshaft. Ende 2017 wurde er zu acht Jahren und neun Monaten Haft verurteilt, weil er über ein Video berichtet hatte, in dem Sondereinsatzkräfte auf dem Boden liegende, gefesselte kurdische Zivilist*innen rassistisch beleidigten. Aus dem Gefängnis hat er uns einen Brief geschrieben, der unsere Redaktion über Umwege erreichte. Er freut sich über Post, wenn sie zu ihm durchkommt: Nedim Türfent, Yüksek Güvenlikli Kapali Ceza Infaz Kurumu, A-49/Van
Die AKP, die mit dem Vorwand an die Macht gekommen ist, Verbote aufzuheben, versucht heute ihr Überleben durch eine repressive Politik der Verbote zu sichern. Die Ziegel ihres Palasts der Totalisierung werden vor unser aller Augen gemauert. Nach 18 Jahren an der Macht sind die Verfallssymptome nicht mehr übersehbar. Und die Regierung verschanzt sich jeden Tag weiter hinter ihrer Sicherheitspolitik. Inzwischen ist es zu einer politischen Entscheidung geworden, die Freiheit der Sicherheit und Gerechtigkeit der Gewalt zu opfern.
Also machen wir uns dran und streichen ein augenscheinliches Thema blau an – denn in den türkischen Gefängnissen sind rote Stifte verboten. Der Soziologe Anthony Giddens zählt verstärkte Polizeigewalt zu den wichtigsten Charakteristika eines totalitären Systems.
Zwei Jahre nachdem die AKP an die Macht gekommen ist, trieb sie die Bewaffnung der Polizeiorgane voran. 2011 wurde ein solides gesetzliches Fundament geschaffen, um private Sicherheitsfirmen zu paramilitärischen Einheiten werden zu lassen.
2014 wurde die Polizei dann mit weiteren Befugnissen ausgestattet. Sie hatte nun die Erlaubnis, Schusswaffen zu gebrauchen, wenn das Gegenüber einen gefährlichen Gegenstand in der Hand hält, und konnte Personen ohne einen staatsanwaltlichen Beschluss festnehmen. Während des Ausnahmezustands zwischen 2016 und 2018 wurden mithilfe der Notstandsdekrete die Befugnisse der Polizei und der privaten Sicherheitsfirmen ausgeweitet. Während die Bevölkerung Not litt, betrug 2012 das Budget der Sicherheitsbehörden nach offiziellen Angaben 12 Milliarden Lira. 2019 waren es 39 Milliarden.
Seit 2016 gehören Nachtwächter in den Wohn- und Geschäftsvierteln zum Alltag. „Ich will auch abends im Bett die Pfeife des Nachtwächters hören“, soll Erdoğan persönlich zum Innenminister Süleyman Soylu gesagt haben. 2018 gab Soylu bekannt, dass zusätzliche 7.000 Nachtwächter eingestellt werden sollen. Dass Erdoğan das Pfeifen bei so dicken Palastmauern beim besten Willen nicht hören kann, ist noch ein ganz anderes Problem...
In diesem Jahr soll die Zahl der Nachtwächter auf insgesamt über 30.000 steigen. Im Februar hat der Innenausschuss des türkischen Parlaments einem Gesetzesvorschlag zu diesem Thema zugestimmt. Mit diesem neuen Gesetz sollen den Nachtwächtern nach einigen Monaten Ausbildung die Befugnisse gegeben werden, Waffen zu benutzen sowie Personen- und Fahrzeugkontrollen durchzuführen.
Die AKP, die schon jetzt die Justiz und alle anderen staatlichen Organe mit ihren eigenen Kadern durchsetzt hat, sorgt jetzt mit ihren bewaffneten Nachtwächtern – oder nennen wir sie Parteimilizen – noch für den fehlenden Putz an den Staatsmauern. Zusätzlich zu der Polizei und dem Militär, die durch die Straflosigkeit geschützt sind, gibt es jetzt also auch noch die Nachtwächter.
Aber wir wollen nicht eines Tages in einem Land aufwachen, indem die Banalität des Bösen so viele kleine Eichmänner geschaffen hat, die alle nur ihren Befehl ausführten. Und wir wollen auch nicht abends, wenn wir ins Bett gehen, das Pfeifen der Nachtwächter hören.
Nedim Türfent hat diesen Brief am 4. Februar geschrieben. Er hat taz.gazete am 9. Februar erreicht.
Aus dem Türkischen von Julia Lauenstein
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