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Fragmentierte Folklore

Seit 2013 beschäftigt sich das Projekt „Heimatlieder aus Deutschland“ mit der Frage, wie Heimat klingen kann. Aus diesem Musiker*innen-Pool ging unter anderem das Minimal Utopia Orkestra hervor, das nun erstmals eigene Kompositionen vorstellen wird

Von Stephanie Grimm

Über das, was Heimat ist – und was mit dem Begriff überhaupt gemeint sein könnte –, wird gerne und auf zunehmend hässliche Weise gestritten. Nicht zuletzt deshalb heißt es immer wieder, man solle das Konzept doch bitte nicht den Rechten überlassen. Aber es ist eben gar nicht so einfach, den Begriff konkret zu füllen – auf eine Weise, die nicht völlig subjektiv ist, sondern durchaus an einen kulturellen Zusammenhang anknüpft. Und die trotzdem andere nicht qua Herkunft ausschließt. Dass die heimische Küche nach Heimat schmeckt, darauf können sich die meisten vielleicht noch einigen – aber darüber hinaus? Was soll Heimat überhaupt sein?

Seit 2013 beschäftigt sich vor diesem Hintergrund das Projekt „Heimatlieder aus Deutschland“ mit der Frage, wie Heimat klingen kann. Initiiert haben es der Autor und Migrationsforscher Mark Terkessidis (der bereits 1996 das in der Sache wegweisende Buch „Mainstream der Minderheiten“ veröffentlichte) und Jochen Kühling, seines Zeichens zuvor Geschäftsführer bei Plak Music, einem Label, das auf (deutsch)türkische Musik spezialisiert ist.

Die Idee war, dass Musiker*innen aus ganz unterschiedlichen Kulturkreisen alte und neue Songs aus ihrer Heimat sammeln und auf sogenannten „Heimatlieder-Abenden“ vorstellen; insgesamt 150 Musiker in 13 Ensembles wirkten daran mit. Die Veranstaltungsreihe läuft bis heute; mittlerweile blickt man auf 40 Auftritte zurück.

Doch erst mal verband die Teil­neh­me­r*innen ja nichts außer der thematischen Klammer, unter der das Ganze stattfand. Musikalisch und auch sonst waren die Künstler*innen einander zunächst fremd.

Trotzdem ging aus diesem Mu­si­ke­r*in­nen-Pool ein weiteres, etwas wagemutigeres Projekt hervor: der „Traum von Weltmusik“, der 2017 zur Aufführung kam. 20 Künstler*innen aus den an dem „Heimatlieder-Abenden“ beteiligten Ensembles beschäftigten sich nun mit Werken klassischer deutschstämmiger Komponist*innen aus den 1960er und 1970er Jahren. So interpretierten sie zum Beispiel verschiedene Kompositionen von Karlheinz Stockhausen, Hans Otte oder Grete von ­Zieritz neu.

Das Projekt stellte die Teil­neh­me­r*in­nen vor neue Herausforderungen, was Kühling bis heute zum Schwärmen bringt. So erzählt er im Interview, was herauskam, als einige der Künstler, „die jahrzehntelang ausschließlich mit Folklore und traditioneller Musik unterwegs gewesen waren oder in ihrer Freizeit nur Musik hörten, die nichts mit westlicher Welt zu tun hat“, es plötzlich mit einer Stockhausen-Komposition zu tun hatten, zu der es nur schriftliche Anleitungen in Textform gibt (wie etwa beim Musikstück „Aus den sieben Tagen“). Und bei dem keine einzige Note vorgegeben ist.

Sich an freie, atonale Impro auf der Basis von Erläuterungen heranzuwagen, so Kühling, verlange von Musikern Mut und natürlich auch Lust am Experiment. Und er setzt diesen Experimentierwillen in einen breiteren Zusammenhang: „Die Angst vor dem Fremden zu überwinden ist ja globales Thema in Zeiten der Migration.“ Genau das sei bei dem „Traum von Weltmusik“ passiert – kein Wunder, dass das Projekt, das dann daraus hervorging, die Utopie dann gleich im Namen trägt. Mit dem Neue-Musik-Experiment endete die Auseinandersetzung mit der Frage, welcher Sound Heimat abbilden kann, nämlich noch längst nicht.

Die Begegnung mit experimenteller Musik hatte Spuren bei den Musikern hinterlassen, deren Spezialgebiet ja eigentlich die traditionelle Folklore war. Aus dem Ensemble, das sich mit der modernen Klassik beschäftigt hatte, bildete sich das 11-köpfige Minimal Utopia Orkestra, das nun erstmals eigene Kompositionen vorstellen wird. In die ließen die Künstler*innen eigene Musikideen einfließen – eine zentrale Rolle spielte dabei der ­Multiinstrumentalist David Beck, der neben Gitarre und Banjo auch Gimbri spielt, eine Kastenhalslaute aus dem Maghreb.

Und auch wenn sie das Orkestra „Minimal Utopia“ nennen, folgen die so entstandenen Stücke keineswegs der engeren Definition von Minimal ­Music. Aber eben auch nicht klassischen Songkonventionen. „Was ist denn klassisch“, heißt es dazu in ihrer Pressemitteilung, „wenn eine viet­namesische Monochord von maghrebinischen Quarquabas angespornt wird und dazu jahrhundertealte serbische Gesänge erklingen, die in einer Art Bridge von kamerunischem Bamileke-Gesang auf eine ganz neue Rhythmusreise geschickt werden.“

Der unlängst erschienene Track, der damit wohl beschrieben wird, heißt „www“ und basiert auf einem serbischen Volkslied und ist tatsächlich ein ziemlich wilder Ritt durch Klangwelten vom Nahen bis zum Fernen Osten. Fortlaufend verändert das Stück seine Anmutung; und trotzdem wird ein kohärentes Ganzes daraus. Das dann irgendwann in etwas Technoides mündet. Vier Stücke sollen demnächst erscheinen, mittelfristig ist auch die Veröffentlichung eines Longplayers angedacht.

„Dass es möglich ist, Musik, Rhythmen, Sprachen und Mentalitäten aus vier Kontinenten zusammenzubringen und daraus etwas Einzigartiges zu machen“, das begeistert Kühling an dieser Inkarnation ihrer Projektreihe. Dass das unter dem Motto „Minimal“ stattfindet, ist zwar keine musikhistorische oder ästhetische Verortung im engeren Sinne. Trotzdem hat der Begriff für ihn eine praktische Bewandtnis. „Ich glaube, diese Minimalisierung ist dann auch entscheidend dafür gewesen, dass es überhaupt zu etwas wurde. Ein kleine gemeinsame Nenner muss her, wenn so viel Verschiedenes im Angebot ist. Sonst wird es zu viel. Und es funktioniert. Wunderbar!“

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