Russisches Antifa-Stillleben mit Möhre und Kompott

Eine Solidaritätsausstellung für politische Gefangene in Russland kommt erstmals nach Deutschland und macht für kurze Zeit in der Living Gallery in Berlin-Mitte Station

Von Barbara Kerneck

„Dort in Berlin werden diese Dinge zum ersten Mal außerhalb Russlands zu sehen sein“, ­Jewgenia Kulakowas Stimme quillt stolz über Skype aus Moskau herüber. „Dort“, das ist in der Living Gallery in der Kollwitzstraße in Berlin-Mitte. Es geht um die Ausstellung „Meiner Aussage getreu protokolliert“ mit etwa vierzig Kunstwerken. Etwa die Hälfte davon kommt von jungen, politischen Häftlingen aus Russlands linkem, anarchistischem und antifaschistischem Spektrum. Neun von ihnen sitzen seit über zwei Jahren hinter Gittern und warten auf ihre Prozesse wegen „Bildung einer terroristischen Vereinigung“ namens Set (deutsch: Netz). Ihnen drohen zwischen fünf Jahren Haft und „lebenslänglich“. Die restlichen Exponate stammen von solidarischen KünstlerInnen.

Die Häftlinge sind Männer zwischen 23 und 31, sie kommen aus den Städten Pensa und Sankt Petersburg. Jeweils dort sowie in Moskau wurde die Ausstellung bisher fünfmal gezeigt. Jewgenia, 31, bezeichnet sich als „Mitglied des Ausstellungskollektivs und des Unterstützerkreises“. Dieses bildete sich sehr rasch und wächst dank der Absurdität der Anklage ständig.

Diese lautet unter anderem auf Planung eines bewaffneten Aufstands, um die Macht im russischen Staat zu ergreifen. Anfangs gestanden die Angeklagten sehr schnell, widerriefen aber später ihre Aussagen und bestreiten, eine Organisation gebildet und den Namen Set je benutzt zu haben. Mithilfe von Medizinern und – in Sankt Petersburg – einer die Gefängnisse in Stichproben kontrollierenden Bürgerkommission konnten sie nachweisen, dass sie schwer misshandelt, zum Beispiel stundenlang geprügelt und mit Elektroschocks malträtiert worden waren. Bei der Verhaftung habe man ihnen Waffen, Sprengstoff und Drogen untergeschoben.

Ihre Biografien entsprechen nicht gerade dem typischen Terroristenbild. Einer ist Veganer, drei sind aktive Tierschützer, mehrere von ihnen setzten sich für Obdachlose ein, und zwei organisierten einen nichtkommerziellen Markt zum Tausch von Gebrauchsgegenständen. Alle nahmen an Protesten gegen Rassismus in der Gesellschaft teil.

Jewgenia kommentiert: „Mir scheint, dass unser Staat Menschen mit Eigeninitiative als bedrohlich empfindet; ebenso Leute, die ihre Probleme selbstständig lösen. Es ist ganz klar, dass es sich hier um einen Schauprozess handelt, bei dem den linken, anarchistischen und antifaschistischen Communitys gezeigt werden soll: Guckt mal her, auf die Art werden wir mit euch abrechnen! Als Belastungszeugen treten Angehörige der rechten, nationalistischen Szene auf. Und dass die Leute aus dem Inlandsgeheimdienst FSB mit denen in dieselben Fitnesscenter gehen, das passiert vor unseren Augen“.

Zwecks Fitness, nämlich zum Selbstverteidigungstraining, trafen sich auch die Angeklagten mit Gleichgesinnten. Zur Furcht hatten sie allen Grund: Einige aus ihren Kreisen waren bereits von Ultrarechten ermordet worden. Zwei der Angeklagten hat das renommierte Menschenrechtswerk Memorial als politische Gefangene anerkannt.

Unter ihnen ist der Programmierer Viktor Filinkow, er hat ein „Stillleben“ gezeichnet. Darauf zu sehen sind eine Mohrrübe, Radieschen und ein Glas Kompott. Er hat diese Errungenschaften aus einem Unterstützerpäckchen auf dem Bild mit pittoresker Kinderschrift versehen. „Er hat sich diese Buchstaben erst im Gefängnis beigebracht“, erklärt Jew­ge­nia, „seit seiner Kindheit hatte er fast nur auf Computertastaturen getippt. Und da steht noch eine Zeile als Antwort auf unsere Anfrage, ob wir in unseren Briefen vielleicht ‚unangemessene‘ Themen meiden sollten: ‚Unangemessenes nimmt die Gefängniszensur von selber raus.‘ “

1. Februar, 17 Uhr: Ausstellungseröffnung und Podiumsdiskussion mit russischen Gästen (deutsch-russisch simultan gedolmetscht) in der Living Gallery

3. Februar, 19 Uhr: Finnisage mit Versteigerung der ausgestellten Werke