: Anonymer Unmut
Ein „Offener Brief“ kritisiert die Münchner Kulturpolitik
Von Patrick Guyton
Anonyme Schreiben landen häufig im Papierkorb. Wer sich namenlos äußert, nimmt sich den Anspruch auf Kenntnisnahme. Eine Ausnahme bildet der „Offene Brief“ eines selbst ernannten Künstlerkollektivs namens „Dear All“ zur Münchner Kulturpolitik. Er ist an das Kulturreferat gerichtet und zeugt davon, dass die Verfasser beste Kenntnisse der Kulturszene besitzen – und bei Gegenwartstheorie ganz schön was auf dem Kasten haben. Ihr Hauptvorwurf lautet: Es rege sich der Verdacht des „institutionalisierten Rassismus“ im Kulturreferat als einem „eigenen blinden Fleck“. Damit ist gemeint, dass queere, migrations- und diversitätspolitische Themen bei der Diskussion über die Zukunft Münchens ausgeblendet werden.
Auslöser ist das Symposium „Kunst im öffentlichen Raum – City. Politics. Memory“, das am Freitag und Samstag im edlen Lenbachhaus stattfindet, veranstaltet von der Behörde und dem NS-Dokumentationszentrum. Das mutmaßliche Kollektiv „Dear All“ erkennt an, dass die Veranstaltung mit hochkarätigen ExpertInnen besetzt ist. Es geht dabei um Akteure im öffentlichen Raum und dessen Nutzer, „künstlerischen Aktivismus“ oder den Kulturkampf in Polen – um eines aber nicht, stellen „Dear All“ betrübt fest: „Uns fällt jedoch auf, dass keines der angekündigten Panels die Diversität Münchens als eine postmigrantische, postkoloniale und queere Gesellschaft abbildet.“ Obwohl in der Einladung geschrieben werde, Thema sei auch eine „Stadt wie München, die sich im konstanten Wandel befindet, in der Raum knapp und umkämpft ist“.
Da ist was dran. Doch leider lässt sich mit „Dear All“ nicht diskutieren. Auf eine E-Mail-Anfrage folgt die anonyme Antwort: „Wir möchten, dass sich die Menschen auf das konzentrieren, was wir zu sagen haben, und nicht auf bestimmte Personen.“ Weiter heißt es blumig: „Unsere Mitglieder sind überall und nirgendwo.“ Wer recherchiert, entdeckt, dass die Formation „Dear All“ im vergangenen März eine Veranstaltung in Matthias Lilienthals Kammerspielen zum Thema „Alltagsrassismus und strukturelle Ausgrenzung in Kulturinstitutionen“ hatte. Die Spur führt zu einem Berliner Kunstprofessor, einem Stuttgarter Ausstellungsmacher-Paar und einigen Aktiven im Münchner Kunstbetrieb.
Das kritisierte Kulturreferat lud „Dear All“ per Mail zur Diskussion ein. Die Gruppe antwortete, dass sie anonym bleiben möchte und daher ein Gesprächsangebot ablehnt. Die Sprecherin des Referats meint: „Schade.“
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