Ausgehen und rumstehen von Sophia Zessnik
: Schwebende Elefanten und fiktive Polarlandschaften

Ewig war ich nicht mehr im Literaturhaus in der Fasanenstraße. Das letzte Mal blühte der umgrenzende Garten, es war hell und warm. Nun, zweieinhalb Jahre später, ist alles anders. Von Blumen keine Spur – draußen sitzt niemand, denn es ist dunkel und sehr, sehr kalt. Es ist so kalt, dass mich sofort eine schwere Müdigkeit ergreift, sobald ich den Innenraum betrete. Über mir hängt ein weißer Elefant von der Decke, der mir bei meinem letzten Besuch nicht aufgefallen ist. Weniger Kunst als Denkmal, erinnert der schwebende Dickhäuter an einen kurzzeitigen Bewohner des Hauses. In den sechziger Jahren beherbergte das Gebäude neben strippenden Tänzerinnen nämlich auch ein indisches Elefantenbaby, das dem Ambiente wohl den extra exotischen Hauch verleihen sollte. Im Keller gehalten, verstarb das Tier leider bereits mit 14 Monaten an einer Lungenentzündung.

Wie so oft bin ich zu früh, aus Angst, zu spät zu kommen. Noch ist das Entrée leer – aus dem angrenzenden Café höre ich aber heiteres Stimmengemurmel. Bis die Veranstaltung beginnt, kann ich mich ebenso gut noch dorthin setzen und mich mit meiner Lektüre auf den Abend einstimmen. „Brüder“ von Jackie Thomae ist einer von zwei Romanen, um die es bei dem Panel „Autofiktion heute“ gehen wird – „Die Entflohene“ von Vio­laine Huisman der andere. Ersteren lese ich gerade, als ein Mann das Kaffeehaus betritt. Im dunklen Mantel steht er etwas verloren da und blickt suchend durch seine goldgeränderte Helmut-Kohl-Brille. Über der linken Schulter baumelt ein rosafarbener DM-Beutel – das Original aus Baumwolle, keine ironisch-zynische Designer-Version aus Leder. Nur an seinen graumelierten Haaren erkenne ich den Tocotronic-Sänger. An die Seite von Dirk von Lowtzow gesellt sich eine Frau, von der ich annehme, dass sie die Autorin meiner Lektüre ist. Beide werden sie gleich Teil der Veranstaltung sein.

Noch nie habe ich ein Buch gelesen und zeitgleich den*die Autor*in darüber sprechen gehört – und so denke ich im Vorfeld nicht an etwaige Spoiler, die mich in den kommenden eineinhalb Stunden überraschen könnten. Von ihnen gibt es ein paar, wie auch sonst sollte Thomae unterscheiden, was an ihrer Geschichte autobiografisch, was fiktional ist. Auf den allerersten Blick verbindet Thomae mit ihren zwei männlichen Hauptfiguren eigentlich nur die ostdeutsche Herkunft und die dort auffällige Hautfarbe. Doch was sie hier verarbeitet, ist vielleicht noch prägender als Alltagsrassismus und der miterlebte politische Systemwechsel. Es ist die eigene Beziehung zu ihrem guineischen Vater oder das Fehlen ebendieser, das die gebürtige Leipzigerin hier einflicht. Dennoch besteht sie darauf, dass keiner ihrer Charaktere ihr bloßes Alter Ego sei – sie eher einen Roman über ihre Generation schreiben wollte, als ihre Lebensgeschichte zu fiktionalisieren.

Tags darauf ist es noch kälter und trotzdem fahre ich mit dem Rad nach Mitte. P. wartet bereits vor der Alfred-Ehrhardt-Stiftung auf mich. Hier ist seit zwei Wochen die Ausstellung „Modell-Naturen in der zeitgenössischen Fotografie“ zu bestaunen. Täuschend echt sehen die Landschaften auf den ausgestellten Werken von Sonja Braas, Oliver Boberg, Julian Charrière, Shirley Wegner und Thomas Wrede aus. Schneebedeckte Berggipfel, Wolkenschwaden im Himmel und recht banal aussehende Häusermauern wecken nicht oder erst beim genauen Hinsehen Zweifel. Besonders angetan hat es uns die fünfzigteilige Fotoserie „The Passage“ von Sonja Braas, die den Zyklus eines Jahres in einer fiktiven Polarlandschaft abbildet. Hier hinterfragt jedes Foto von Neuem die optische Wahrnehmung: Mal erinnert die Landschaft an tosende Meeresfluten, dann wieder an gräulich schmutzigen Tiefschnee, nur um sich auf dem nächsten Bild scheinbar als Mondlandschaft herauszustellen.

Als wir wieder heraustreten aus den fiktiven Naturlandschaften hinein in die ganz reale Großstadtkulisse, ist es immer noch kalt – und ein bisschen riecht es auch nach Schnee.