Das Drama als eigener Parcours

David Ndjaveras und Gernot Grünewalds Stück „Hereroland“ am Thalia Theater in Hamburg

Blick in den Parcours mit den verschiedenen Stationen von „Hereroland“ Foto: Armin Smailovic

Von Fabian Lehmann

Staubtrocken knirscht der Sand unter den Schuhen in der stockdunklen Hütte. Aus den Kopfhörern dringt schweres Atmen. Unvermittelt blitzt ein Licht auf, geführt von einer Person, die sich geisterhaft durch den kleinen Raum bewegt. Nach exakt fünf Minuten ist der Spuk vorbei und die Zuschauer werden aus der klaustrophobischen Umgebung entlassen.

Die dunkle Hütte, das ist „Waterberg Innen“, die zehnte Station auf meinem persönlichen Parcours Nummer „030“ durch das Stück „Hereroland“. Die Produktion schickt die Zuschauer auf einem vorgegebenen Weg durch den Saal des Hamburger Thalia Theaters in der Gaußstraße. Der Parcours besteht aus 19 verschiedenen Stationen und 116 Möglichkeiten, diese abzulaufen. Am Eingang erhalten die Besucher ihre individuelle Karte, die sie durch den Abend leiten wird. Niemand wird am Ende alle Stationen gesehen haben. So ist das Erleben des Abends für alle Besucher ein anderes.

Mit dem Parcours sucht Gernot Grünewald als einer der beiden Regisseure seine Wahrnehmung des Völkermords an den Herero und der namibisch-deutschen Kolonialvergangenheit einzufangen. Im Jahr 1904 hatten deutsche Kolonialtruppen unter General Lothar von Trotha nach den Gefechten am namibischen Waterberg die fliehenden Herero in die Wüste getrieben und die Wasserstellen abgeriegelt. Geschätzte 70 Prozent der Herero-Bevölkerung sind dabei erschossen worden oder elendig verdurstet.

Die Bewertung der historischen Ereignisse, die heute von den meisten Historikern als Genozid bezeichnet werden, bleibt zumindest in Teilen der deutschen und namibischen Bevölkerung umstritten. Grünewald, der in Namibia auch den Kontakt zu den deutschsprachigen Nachfahren der Täter gesucht hat, wollte auch deren Perspektive auf die Bühne bringen: „Die einzige Möglichkeit, mit diesen verschiedenen Perspektiven umzugehen“, so Grünewald, „war es für mich, sie alle zugleich auf die Bühne zu bringen.“

Als Vertreter des Dokumentartheaters gibt Grünewald den Zuschauern die Möglichkeit, auf dem Weg durch den Theatersaal ihre jeweils eigene Wahrheit zusammenzufügen. Dabei geht die kurze Verweildauer an den Stationen manchmal auf Kosten der Figuren, die dann holzschnittartig und allzu karikiert wirken. So wie der deutsche Farmer, an dessen Tisch sich die Zuschauer versammeln, um sich von den „Großtaten“ der Deutschen erzählen zu lassen, die Namibia erst entwickelt hätten.

Niemand wird am Ende alle Stationen gesehen haben. Den Abend erleben alle Besucher anderes

Einen anderen Zugang wählt der zweite Regisseur des Abends, David Ndjavera. Der mehrfach ausgezeichnete namibische Schauspieler und Regisseur ist seit dreißig Jahren im Geschäft. Ndjavera hatte Grünewald 2016 kennengelernt, als dieser für seine Produktion „Oshi-Deutsch“ nach Namibia gekommen war.

Ndjavera stellt ein linear erzähltes Stück im Stück in die Mitte des Raumes. Die in sechs Episoden aufgeteilte Erzählung gibt dem Abend Struktur und den Besuchern immer wieder die Möglichkeit, sich von den einzelnen Stationen zu lösen und gemeinsam dem zentralen Geschehen beizuwohnen. Gezeigt wird das nami­bisch-deutsche Ensemble hier beim Einüben einer Gerichtsverhandlung, in der den Deutschen der Prozess gemacht wird. Dabei ist eine zentrale Forderung, die im Laufe des Abends immer wieder zu hören sein wird, die nach dem Zugang zu Land. Eben jenem Farmland im historischen Kerngebiet der Herero, das heute von weißen, oft deutschstämmigen Farmern bewirtschaftet wird. Ndjavera selbst formuliert das gemäßigt: „Wir haben keinen Krieg mit den Deutschen. Wir haben nur dort ein Problem, wo wir nicht unsere normale Lebensweise weiter führen können. Denn wir leben vom Vieh und das Vieh lebt vom Land.“

Trotz der Verhandlung des Völkermords und der in Namibia brodelnden Landfrage ist „Hereroland“ kein anklagendes Stück. So setzt es sich wohltuend von Nuran David Calis’ 2019er Produktion „Herero_Nama“ am Schauspiel Köln ab. Statt auf schmerzvolle Selbstbefragung der Deutschen als Täternachfahren setzt „Hereroland“ auf intime Begegnungen und formal abwechslungsreiche Zugänge, die den zweistündigen Abend im Flug vergehen lassen. Wer etwa in der Station „Kindergarten“ zusammen mit lediglich sechs anderen Zuschauern den Erzählungen der namibischen Erzieherin im leuchtenden Hererokleid gelauscht hat, wird das so schnell nicht wieder vergessen.