Alle haben sich lieb

Im Projekt „Frühlingserwachen“ lassen Regisseurin Alize Zandwijk und Choreograf Tomas Bünger die Jungen Akteure Wedekinds Teenie-Tragödie durch einen Traum vom schönen Miteinander ersetzen

Hormone? Es ist zum Wände­hochgehen Foto: Jörg Landsberg/Theater Bremen

Von Jens Fischer

Überwältigend viel los. Am Körper sprießen Haare, Drüsen, Pickel, durchs Hirn tosen dazu die großen Fragen: Wer bin ich, was soll ich hier und ist Sex mehr als Ficken? Der junge Mensch will in die Welt. Es gibt zwar nicht mehr die von antiquierter Prüderie, restriktiver Moral, verwirrender Bigotterie und unverhohlener Brutalität beherrschte Welt der wilhelminischen Gesellschaft, der die freiheitsdurstigen Entwürfe der Jugend ein Gräuel waren, wie in Frank Wedekinds Aufklärungssatire „Frühlings Erwachen“. Aber die emotionale Grundierung scheint zeitlos, haben sich doch all die Versagensängste und Unsicherheiten nicht verändert. Hinzugekommen ist nur die medial vermittelte Übermacht der Bilder und des theoretischen Wissens. Darum geht ins in dem Projekt „Frühlingserwachen“ am Theater Bremen.

Zum Zerreißen gespannt, in ständiger Bewegung, schutzlos sich allen Impulsen ausliefernd, entern elf Bremer – 14 bis 21 Jahre alte, herrlich diverse Junge Akteure – das Bühnenbild. Mit dem das Theater Nachhaltigkeitspunkte sammelt. Hat Regisseurin Alize Zandwijk es doch bereits 2018 für ihre Suche nach „Amour“ genutzt: betongraue Wände, kopfhoch holzvertäfelt, frisch gebohnerter Fußboden in PVC-Anmutung, Basketballkörbe und eine abgerockte Dusche. Diese perfekt schäbige Schulturnhallen-Illusion ließ Thomas Rupert im 1960er-Design bauen. Jetzt ist sie ein prima Spielplatz für Ini­tiationsriten. Im Probenprozess hat das Ensemble nach und nach mit seiner Sprache, eigenen Texten und biografischen Geschichten das Stück Wedekinds überschrieben. Zandwijk nimmt die Äußerungen auch in ihrem Pathos ernst und lässt sie erblühen.

Sport steht an. Sich austoben. Was im Theater auch meint: sich ausdrücken. Also Alltagsklamotten ablegen. Die dabei zum Vorschein kommende Vielfalt an Unterhosen und darüber gezogenen Fitnessklamotten, aber auch die Andeutungen des sozialen Status in der Gruppe erzählen bereits etwas über die sich formulierenden Charaktere. Mehr ist ganz beiläufig zu erfahren, wenn sie sich beim Basketballspielen einbringen, Körper- und Selbstbewusstsein in Dehnungsübungen vereinen, sich verloren an einer Wand herumdrücken oder lebenslustig in rhetorischer Prahldiktion und aufgemotzten Gebärden auftrumpfen. Plötzlich die Frage: „Wie war es denn?“ Gekicherte Neugier allenthalben. Bis Luca Fraßmann zugibt: „Ich war zu aufgeregt.“ Andere müssen antworten, ob sie überhaupt schon mal ein Mädchen nackt gesehen haben.

„Ich dusche nie nackt“, sagt Ayman Abdulazeez und wird dafür verhöhnt. Ob er einen winzigen Schwanz zu verbergen habe? Schnell ist in ihm ein Außenseiter gefunden, was in Gewalt gegen ihn umschlägt – bei Wedekind war noch die Sehnsucht nach Berührung dazu Auslöser. „Man, der schämt sich, der kommt aus einer ganz anderen Kultur“, versucht Muhannad Al Baradan zu beruhigen.

Immer wieder tritt ein Heranwachsender als Darsteller seiner selbst aus der Gruppe hervor. Matti Weber weiß so gar nicht, wie das geht mit dem Küssen. Aaron Lampe erklärt ihm die Grundlagen, beschreibt das zu erwartende Gefühl – „Das ist wie vom 10-Meter-Turm springen“ – und lässt aus seinem Handylautsprecher Dean Lewis Schmachtfetzen „Waves“ erklingen, während Muhannad mit einer innigen Kuss-Darbietung in die Praxis einführt.

Wenn Milan Wiese seinen allnächtlich bitterlich geweinten Weltschmerz verkündet, wird er von einem Jungen zärtlich vom Boden gehoben, durch den Raum getragen und zum Tanzen animiert – als Versuch der Befreiung. Wenn Ben Grindel zu Muhannad beim Zuspiel des Basketballs sagt: „Fang die Handgranate, du Flüchtling“, fragt dieser nach Minuten des betroffenen Schweigens, ob jemand wisse, was es heißt, seine Heimat zu verlieren. Und berichtet vom Kampf seiner Familie gegen den syrischen Machthaber Baschar al-Assad, von Krieg, Terror, Armut und Flucht. Solidarische Gruppenbildung folgt. Und eine Märchenerzählung von zweiköpfigen Wesen. Ja, so fühlen sie sich. „Ich habe zwei Seiten“, sagt Ismael, „meine deutsche und meine syrische. Wie soll ich mich entscheiden? Ich bin hier anders und ich bin da anders.“

Wie in so einem Wohlfühlfilm made in Hollywood wird jeder Konflikt, jedes existenzielle Problem, jede Ausgrenzung weggekuschelt, was die Kitschseele in uns Zuschauern jubilieren lässt, aber eben auch den Eindruck heraufbeschwört, es gäbe gar keine Konflikte, Probleme, Ausgrenzungen. Da ist Wedekinds Vorlage ein Gegenentwurf, nehmen dort doch die Auseinandersetzungen die schlimmstmögliche Entwicklung, die Protagonisten sterben oder bringen sich um. Zand­wijks Inszenierung und Tomas Büngers Choreografie sind dagegen ein Traum vom idealen Miteinander.

„Frühlingserwachen“: Do, 30. 1., Fr, 7. und Sa, 15. 2., 20 Uhr, Theater Bremen/Kleines Haus