: Zu Scherben zerbrechen
Neujahrskonzert 2: Englands alter Glanz im Brexit-Monat. Der Rias Kammerchor spielte in seinem Neujahrskonzert Händels „Messiah“
Von Tim Caspar Boehme
Für das Jahr mit der schön runden Zahl 2020 braucht es eine würdige Begrüßung. Auch musikalisch. Der Rias Kammerchor und sein Chefdirigent Justin Doyle setzten mit ihrem Programm für das Neujahrskonzert in der Philharmonie ein klares Zeichen: festlich, prunkvoll und very british – mit dem „Messiah“ von Georg Friedrich Händel.
Ein Klassik-Welthit, der für seinen Schöpfer zum Markenzeichen wurde. Händel galt nach dem Erfolg seines 1742 komponierten Oratoriums schlicht als „der Komponist des Messiah“. Dass er insgesamt 32 Oratorien schrieb und zuvor in England mit seinen 42 italienischen Opern zu Ruhm gelangte, geriet darüber ein wenig in Vergessenheit. Wobei der „Messiah“ in Deutschland immer ein wenig im Schatten von Händels Zeitgenossen Bach stand. Der hat mit seinem „Weihnachtsoratorium“ vermutlich schon allein der heimischen Sprachwahl wegen die hierzulande beliebtere „klassische“ Musik für die Zeit zwischen den Jahren geschrieben.
Inhaltlich interessant ist am „Messiah“ dagegen das für das Thema ungewöhnliche Libretto, bei dem der Autor Charles Jennens in erster Linie Texte der hebräischen Bibel verwendete und auf die Erzählungen der Evangelien verzichtete. Obendrein beschränkt sich das Werk nicht auf die Geburt Jesu, sondern verarbeitet kompakt die Passionsgeschichte und den Tod gleich mit.
Dass Händel selbst nicht aus England stammte, sondern in Halle geboren wurde, keine 150 Kilometer von Bachs Geburtsstadt Eisenach entfernt, war für die Wahl dieses Konzerts auch aus anderer Perspektive symbolisch, denn dieser Januar soll für England ja den Brexit bringen. Der „Messiah“ ist allein von seiner Entstehungsgeschichte her somit viel europäischer, als es scheinen mag. Neben dem Migrationshintergrund seines Komponisten feierte er 1742 denn auch nicht in England seine Premiere, sondern in Dublin. Erst danach trat er seinen Siegeszug auf der britischen Insel an.
Die Reserviertheit, mit der man dem „Messiah“ in Deutschland gegenüber bis heute auftritt, könnte unter anderem mit Barock-Hörgewohnheiten zu tun haben, die von Bach her geschult sind. Wo dessen komplexe Mehrstimmigkeit ihren eigenen spirituellen Sog entfaltet, genau darin jedoch mitunter eine leichte Erdenschwere aufweist, hat Händels geistliches Hauptwerk einen sehr dynamischen Drive. Polyphonie gibt es bei ihm ebenso, doch Händel hält seine Stimmen schlanker, setzt öfter als Bach auf kompakte Akkorde.
Besonders sein signature song, das „Hallelujah“, besteht fast ausschließlich aus vom Chor geschmetterten Akkorden und einigen vorwiegend unisono gesungenen Partien. Simpler ist die Musik deshalb nicht zwangsläufig, vielmehr behält man besser den Überblick, kann fast auf Anhieb mitsingen und lässt sich obendrein mitreißen. In der Philharmonie stellte sich das Bedürfnis nach Mitsingen kaum ein, einfach weil der RIAS Kammerchor selbst in diesen pompösen Momenten seine kultivierte Klarheit und Transparenz behielt, sodass einem die Musik einerseits nie zu viel wurde und man andererseits lieber gebannt lauschte, statt mit seinem Beitrag das Resultat einzutrüben.
Schön schlank auch der Klang der Akademie für Alte Musik Berlin, deren Musiker den Chor nie zu überdecken drohten. Ebenso wenig das starke Quartett an Solisten, von denen besonders der Bassist Roderick Williams herausragte mit seinem warmen Timbre und der Leichtigkeit, die er selbst in den virtuosen schnellen Passagen beibehielt.
Bleibt die Frage, wie die teils martialischen Zeilen im „Messiah“ aus gegenwärtiger Sicht zu deuten sind. Unmittelbar vor dem triumphalen Gotteslob des „Hallelujah“ etwa singt der Tenor, hier Thomas Hobbs, gegen die Feinde des Herrn: „Thou shalt dash them in pieces/ like a potter’s vessel“. Wären diese Gegner, die man wie irdene Töpfe zu Scherben zerbrechen soll, dieser Tage die anderen EU-Staaten oder sollte man das eher als intern britische Angelegenheit sehen? Am Ende des Monats weiß man mehr. Amen.
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