: Das Jahr der Gerechtigkeit
Kita-Krisen, Rennbahn-Bebauung, Klinik-Probleme und mehr als einmal wird Karlsruhe dem Gesetz in Bremen zur Geltung verholfen haben: Auch wenn nicht jede böse Tat geahndet worden sein wird, alles in allem ist 2020
Von Eiken Bruhn, Lotta Drügemöller, Alina Goetz, Benno Schirrmeister, Simone Schnase und Jan Zier
2. 1. Ibrahim M. wird festgenommen, als er beim Bürgerservice-Center eine neue Meldebescheinigung beantragen will. Umgehende Abschiebung.
7. 1. Mit „Heimatliebe ist kein Verbrechen“- und „Es war (fast) Mord!“-Transparenten schreitet, angeführt von Opfer Frank Magnitz und Ko-Opfer Thomas Jürgewitz (beide AfD) eine Prozession 40 dunkel gekleideter Männer nebst Ann Katrin Magnitz durch die St.Pauli-Passage übers Theatergelände bis kurz vors Brauhaus. Dort ist eine Videoleinwand aufgebaut, von der Lencke Wischhusen herab aus dem Bett ein Grußwort vorträgt: „Ich bin ja nicht bekannt dafür, die AfD zu liken, aber was da in meinem Bremen passiert ist, echt das macht mich noch immer ganz wuschig!“, sagt sie und zupft am Satin-Plumeau. „Wenn selbst ein gestandener Mann wie der Frank Magnitz hier am hellerlichten Tag von Invasoren oder Linken angegriffen werden kann, boah!, und ob mit Kantholz oder nicht, ist da ja egal!, Also ich frage mich da, ob ich als blonde Frau hier mit meinen Arbeitsplätzen noch willkommen bin!“ Man müsse „die Straftäter umgehend abschieben!“, fordert sie unter tosendem Applaus der Schar. Der anschließende Versuch, die mitgeführten Kanthölzer zum Mahnmal für den ein Jahr zuvor (beinahe) ermordeten Frank Magnitz aufzuschichten, scheitert spektakulär: Bei einer Raucherpause entdecken Mitglieder des „Frühlings-Erwachen“-Casts die im Blute liegenden DemonstrantInnen.
8. 1. Bild und Weser-Kurier titeln identisch: „Blutiger Anschlag auf die Demokratie!“. Im WK schildert Frank Magnitz, wie linke Terroristen urplötzlich die friedliche Versammlung überfallen hätten. Ein ähnlicher Hergang ergibt sich aus dem Exklusiv-Interview mit Jürgewitz in der Bild. Die Staatsanwaltschaft kündigt an, die Videoaufzeichnung auszuwerten. „Das, was wir bislang erkennen können, ist allerdings kaum mit den Schilderungen in Einklang zu bringen“, warnt Sprecher Frank Passade vor voreiligen Schlussfolgerungen. „Gründliche Ermittlungen“ seien nötig. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) kündigt trotzdem an, die Plenarsitzung am 13. 1. mit einer Schweigeminute gegen Bremer Linksterror zu beginnen. Die taz in Bremen meldet den Vorfall als „jährliches Kantholz-Wetter“
9. 1. Sabine am Orde liest in einem Leitartikel in taz.die tageszeitung der eigenen Klientel die Leviten: Ihre klammheimliche Freude mache sie zu MittäterInnen. „Wir brauchen Gerechtigkeit für alle und Hass für niemanden, erst recht nicht für die Rechten.“
5. 2. Das Landgericht weist die 1.000-seitige Anklageschrift gegen Bamf-Chefin Ulrike B. als „beispiellosen Versuch, korrektes behördliches Handeln zu kriminalisieren“ zurück. Bundesinnenminister Horst Seehofer drängt darauf, das Landgericht Nürnberg-Fürth hier für Gerechtigkeit sorgen zu lassen.
2.3. Beim Versuch, ein Jahresticket zu kaufen, wird Ibrahim M. im Eingangsbereich des Südbads aufgegriffen, festgenommen und anschließend abgeschoben.
11. 3. Als Ibrahim M. sein Fahrrad in die Linie 2 schiebt, warten dort bereits 40 bewaffnete PolizistInnen. Er lässt sich widerstandslos festnehmen und wird zwei Tage lang verhört, dann am
13. 3. per Airbus 300 in den Libanon ausgeflogen.
17.3. Die Volksentscheid-Ini und der Senat präsentieren nach einer gemeinsamen Sitzung eine Idee fürs Galopprennbahn-Gelände: einem Platanen-Arboretum. „Wir bepflanzen die gesamte Fläche mit je 1.000 Platanen der zehn bekannten Platanen-Arten“, erläutert Bürgermeisterin Maike Schaefer (Grüne). Damit werde zugleich „eine ideelle Brücke zur Botanika geschlagen – von der Vahr nach Horn“. Gunnar Christiansen nennt das Vorgehen im Namen der Platanen-am-Deich-Ini „einen empörenden Spaltungsversuch“, die Brücken-Metapher sei vor dem Hintergrund „zynisch“.
Vermutlich in der Nacht zum 19. 4. sinkt der Oder-Haffkahn Emma im Museumshafen. Sofort, als der Verlust des Schiffs auffällt, erstattet die Museumsleitung bei Bremerhavens Ortspolizeibehörde am 25.4. Anzeige wegen des Verdachts auf Diebstahl. Die prüft den Vorgang, erklärt sich aber für nicht zuständig, und verweist auf die Wasserschutzpolizei. Das Wrack wird entdeckt, als es den Rumpf des Polizeiboots Bremen 2 bei einer ersten Tatortbefahrung am 29. 4. aufreißt, das umgehend sinkt. „Das ist echt Pech!“, sagt Oberbürgermeister Melf Grantz.
8. 5. Ibrahim M. wird, als er in der Flaschenpost im Viertel ein Päckchen Zigaretten bezahlen will, von 100 PolizistInnen überwältigt, verhaftet und umgehend in den Libanon verbracht.
12. 5. Karlsruhe: Das Bundesverfassungsgericht weist die Klage der DFL gegen die Bremer Polizeigebühren zurück. Es sei „unzulässig“, ein Risiko für die Allgemeinheit mutwillig herzustellen und ihr zugleich die Kosten für dessen Beherrschung vollumfänglich zu überlassen. „Die Länder sind nicht nur ermächtigt, sondern verpflichtet, diese, dort wo sie nachvollziehbar unverhältnismäßig werden, an die Veranstalter weiterzureichen.“ Während Karl-Heinz Rummenigge den „Dummbratzen in lila Laibchen“ attestiert „keine, aber auch gar keine Ahnung von Fußball zu haben“, frohlockt Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) im taz-Interview: „Endlich siegt die Gerechtigkeit.“
16. 5. Nach einem ernüchternden 0:8 gegen den 1. FC Köln steigt SV Werder in die Zweite Liga ab, während FC Bayern München RB Leipzig in der letzten Sekunde einer 17-minütigen Nachspielzeit noch den Titel abluchst. „Es gibt doch noch Gerechtigkeit“, kommentiert Karl -Heinz Rummenigge.
Am 9. 6. beschließt der Senat angesichts des explodierenden Geno-Defizits, Claudia Bernhard (Die Linke) damit zu beauftragen, die Privatisierung sämtlicher Kliniken einzuleiten. „Das ist eine bittere Pille“, sagt die Gesundheitssenatorin, „aber die Einsicht ist: Keine Klinik ist auch keine Lösung. Und nur durch den Verkauf der Krankenhäuser können wir deren finanzielle Schieflage teilweise abmildern.“ Deshalb werbe sie nun „aktiv für die Privatisierung“. Das von der Landesverfassung gebotene Referendum werde am 6. 9. durchgeführt.
10. 6. Beim Versuch, sein Fahrrad beim BSAG-Fundbüro abzuholen, wird Ibrahim M.von 500 PolizistInnen umstellt, verhaftet und umgehend abgeschoben.
11. 6. Bei der Baum- und Umweltsenatorin wird eine Platanenkommission eingerichtet, die „das Platanenprojekt in der Vahr betreuen und die Problemplatanen am Deich im Auge behalten“ soll.
13. 6. Ein Sonderparteitag von Die Linke beschließt auf Antrag des Landesvorstands einstimmig, sämtliche Krankenhäuser Bremens zu verstaatlichen, auch die in kirchlicher Trägerschaft.
14. 7. Ibrahim M.: Verhaftung im neuen Schwontkowski-Raum des Weserburg-Museums, wobei die Polizei versehentlich das Gemälde „Überfall“ beschießt. Die umgehende Abschiebung misslingt, weil der Flughafen wegen zu großer Hitze gesperrt ist. Daraufhin wird Ulrich Mäurers Fahrdienst verpflichtet, die Reise in den Libanon mit einem Cambio-Wagen anzutreten. „Gerechtigkeit lässt sich nicht aufhalten“, sagt Mäurer im „buten un binnen“-Interview.
20. 7. Als in Folge der fünf regenfreien Monate und extremer Temperaturen die Platanen am Deich spontan zu brennen beginnen, spricht die Platanen-Ini von einem „feigen Anschlag“. Sie lässt die Baumleichen von der Nürnberger Viversum GmbH channeln, um zu beweisen, dass Umweltsenatorin Maike Schaefer (Grüne) sie durch Einsatz ihres Karmas in den Flammentod getrieben hat.
4. 8. Die FDP fordert mehr Wirtschaftsunterricht an Bremens Allgemeinbildenden Schulen.
2. 9. Gemeinsam mit Propst Bernhard Stecker (Katholik), Schriftführer Bernd Kuschnerus, und Bürgermeister Andreas Bovenschulte stellt Bildungssenatorin Claudia Bogedan (alle BEK) das neue Bremer Kita-Modell vor. „Als uns Mitte Juli klar war, dass etwa 10.000 Kita-Plätze unvorhergesehen fehlen, mussten wir handeln“, sagt sie: „Wir haben die Sommer-Exerzitien genutzt, das Problem zu lösen.“ Die Idee: Künftig fungieren sämtliche Kirchen als Kindergärten. Anstelle von Fachpersonal greife man auf Geistliche zurück, „weil die ja beruflich stets mit Kindern zu tun haben und oft auch privat“, wie Bogedan erläutert, „schließlich heißen wir alle Kinder Gottes und sind es“. Im Rahmen des Möglichen habe man sich auf Standards geeinigt. „Es wird keine Mission mit Feuer und Schwert geben“, verspricht Kuschnerus, „bloß Evangelisation“. Auch bei ihm werde „nur mit Wasser getauft“, beruhigt Propst Stecker. „Und das stellen wir dem Staat nicht, wie den Weihrauch, gesondert in Rechnung.“ Die jüdische und die muslimischen Gemeinden habe man „noch nicht gefragt“, so Bovenschulte, „aber nur aus Zeitnot“.
9.9. Die Verkaufsbefürworter erreichen beim Klinik-Privatisierungsreferendum mit 50,01 Prozent eine knappe Mehrheit. Die Kosten des Entscheids seien „leider auf mindestens zehn Millionen Euro geklettert“, räumt der Landeswahlleiter ein.
30. 9. Ibrahim M. wird beobachtet, wie er an einer Bäckerei vorbeigeht.
13. 10. Das Bundesverfassungsgericht stellt fest, dass Ibrahim M. weiterhin staatenlos ist und nicht abgeschoben werden durfte und darf, sodass Bremen sämtliche Versuche, ihn zwangsweise in den Libanon auszufliegen, selbst bezahlen muss. „Dabei kann, angesichts der Vielzahl von Versuchen ausdrücklich nicht von einer Abweichung von der Normallage im Sinne von Artikel 109 (3) Grundgesetz ausgegangen werden, die erlauben würde, die exorbitanten außerplanmäßigen Kosten über Neukreditaufnahme zu refinanzieren“, erinnert das Urteil an die Geltung der Schuldenbremse. Finanzsenator Dietmar Strehl (Grüne) verhängt eine Haushaltssperre. Ibrahim M. lobt, dass es „doch noch Gerechtigkeit in Deutschland“ gebe.
11. 11. Das Bieterverfahren für die Geno-Krankenhäuser hat keine Übernahme-Interessenten angelockt. Dafür liegt die Endabrechnung des Referendums vor: „Leider war es dann doch noch ein bisschen teurer“, sagt Landeswahlleiter Andreas Cors. „Wir kommen jetzt auf einen Betrag von insgesamt 35 Millionen Euro.“ Grund dafür sei „ein Softwareproblem“.
10. 12. Die senatorische Platanenkommission stellt bei einem Ortstermin in der Vahr fest, dass die Wurzeln von 8.000 der gesetzten 10.000 Platanen bereits irreparabel geschädigt sind: Durch Nitratreste überdüngt und durch Hundeurin verätzt haben sie keinen Halt mehr im Boden und müssen umgehend entfernt werden. „Das nenne ich gerecht“, sagt Platanenaktivist Christiansen.
12. 12. Landeswahlleiter Cors teilt mit, dass das Privatisierungs-Referendum wegen des Softwarefehlers ungültig war und wiederholt werden muss. „Die Ergebnislosigkeit des nun ohnehin nichtigen Bieterverfahrens ändert daran nichts“, stellt er klar. Nachholtermin sei der 14. 2. 2021.
30. 12. Die Staatsanwaltschaft Bremen teilt mit, dass es „am 7. Januar kein Anschlagsgeschehen gegeben“ habe: Vielmehr seien Magnitz und Jürgewitz beim Mahnmal-Bau in Streit geraten über die Frage, wer das erste Holz legen darf. „Dabei ist die Situation entglitten.“ Ermittlungen wegen der Vortäuschung einer Straftat habe man nicht eingeleitet: „Wir gehen davon aus, dass die Beteiligten nicht ganz Herren ihrer Sinne waren und auch sind.“
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